Siebenschön
durfte. Die erste große Bewährungsprobe.
Capelli gab ihr mit einer ziemlich herablassenden Geste zu verstehen, dass sie ruhig näher treten dürfe.
»Und?«, fragte Zhou. »Was haben wir?«
»Nur zu, sehen Sie selbst!«
Sie ist achtundzwanzig, dachte Zhou, nur zwei Jahre älter als ich. Aber sie führt sich auf wie meine Großmutter. Nur zu, sehen Sie selbst!
Sie fühlte die Blicke der anderen auf ihrem Gesicht, als sie mit festen Schritten auf die Truhe zusteuerte, finster entschlossen, sich vor ihren neuen Kollegen nicht die geringste Blöße zu geben. Doch das Bild, das sich ihr im Inneren des Behältnisses bot, brachte selbst ihre erprobte Fassade für einige Augenblickeins Wanken: Zwischen den befremdlich blanken Silberwänden lag die zusammengekrümmte, eigenartig deformiert wirkende Leiche einer Frau. Auf den ersten Blick schätzte sie ihr Alter auf fünfunddreißig bis vierzig Jahre.
Der Täter hatte der Frau offenbar aus nächster Nähe in die Schläfe geschossen, sodass Gehirnmasse bis an die dahinterliegende Wand gespritzt war. Aber das war noch nicht das Schlimmste: Der Körper lag in einem See aus Blut, das im gnadenlosen Licht der Scheinwerfer wie Teer aussah. Allerdings bemerkte Zhou sofort, dass es noch feucht war. Selbst an den Rändern.
Er ist noch nicht lange fort, resümierte sie mit einem leisen Frösteln. Doch welche Art von Verletzung konnte eine derart stark blutende Wunde hervorrufen?
Im Stillen tippte sie auf mehrere Stiche in Brust und Bauch des Opfers, bei denen auch die großen Gefäße im Bauchraum verletzt worden waren. Näheres war jedoch – zumindest aus ihrer Position heraus – schwer zu beurteilen. Die Frau lag so verkrümmt, dass ein großer Teil ihres Oberkörpers verdeckt war.
Gott sei Dank haben wir keinen Sommer mehr, dachte Zhou, erstaunt über ihren eigenen Pragmatismus. Das erspart ihr und uns wenigstens die Fliegen.
In ihrem Rücken telefonierte Capelli offenbar mit Makarov. Doch von dem Gespräch schnappte sie allenfalls Bruchstücke auf. Zu sehr war sie mit dem beschäftigt, was sie sah. Und roch. Den Geruch von frischem Blut. Von Angst und Tod.
Im Studium hatte sie immer zu denen gehört, die kaum je mit der Wimper zuckten, wenn ihre Ausbilder sie mit den dunklen Seiten ihres Jobs konfrontierten. Mit Bildern von misshandelten Frauen, gequälten Kindern und zersetzten Leichen. Aber das hier … Zhou presste die Lippen aufeinander. Das hier war die Realität. Und die löste in ihr etwas aus, dem mit Disziplin und Vernunft allein nur schwer beizukommen war.
Ihre Blicke kehrten zum Gesicht der Toten zurück. Was nach dem Schuss von der Frisur der Frau noch übrig war, verriet einenebenso exzellenten wie teuren Coiffeur. Ihre Augen waren heil und geöffnet, das kräftige Make-up dagegen völlig zerlaufen. Schwarze Striemen zogen sich über ihre Wangen, dort, wo Tränen die Wimperntusche zum Schmelzen gebracht hatten. Und fast schien es, als weine die Frau noch immer.
Zhou betrachtete die hohen Mauern der Halle ringsum, in denen sich bereits vor langer Zeit Hausschwamm und Schimmel eingenistet hatten. Der Raum, in dem sie standen, war nach oben hin offen. Doch die Außenmauern waren zu dick, als dass man die Schreie auf der Straße hätte hören können.
Sie war allein gewesen in dieser riesigen dumpfen Halle. Allein mit ihrem Peiniger, dessen Gesicht vermutlich das Letzte war, was die weinenden blauen Augen gesehen hatten. Zhous Blick saugte sich an der im Scheinwerferlicht beinahe türkis schimmernden Iris fest, während die klamme Kühle des Lagerraums mit langen frostigen Fingern unter ihren Blazer griff. Wann mochte der Frau klar geworden sein, dass sie sterben würde? Oder hatte sie bis zum bitteren Ende gehofft?
»Die Totenstarre ist bereits voll ausgeprägt«, erklärte eine sonore Stimme neben ihr, und erst mit einigen Sekunden Verzögerung registrierte Zhou, dass es sich um die Stimme einer Frau handelte.
Sie wandte den Kopf und blickte in ein apartes Gesicht mit klugen schwarzen Igelaugen. Das Haar der Frau, noch ein wenig zerdrückt von der Kapuze, die sie sich gerade erst vom Kopf gestreift hatte, war raspelkurz und blond, ein unerwarteter, aber äußerst angenehmer Kontrast zu ihrem ausdrucksstarken Gesicht.
»Darf ich vorstellen«, sagte Capelli, die Zhous fragenden Blick bemerkt hatte. »Frau Dr. Bechstein vom gerichtsmedizinischen Institut. Frau Zhou, eine neue Kollegin.«
Die Reaktion der Pathologin bestand aus einem bedeutungsvollen
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