Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Siebenschön

Siebenschön

Titel: Siebenschön Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Judith Winter
Vom Netzwerk:
Hochziehen der rechten Augenbraue, das verriet, dass ihr Capellis Formulierung keineswegs entgangen war.
    Eine neue Kollegin …
    Nicht: Meine neue Kollegin. Deutlicher kann man wohl kaum auf Distanz gehen, dachte Zhou, und sie spürte, wie die Wut in ihr allmählich wieder die Oberhand gewann.
    »Die Frau ist ungefähr sechs bis acht Stunden tot«, erklärte derweil Dr. Bechstein mit kühler Routine. »Vielleicht auch etwas länger.«
    Capelli machte eine wegwerfende Handbewegung.
    »Gesichtshaut und Lippen zeigen deutliche Anzeichen einer Dehydratation«, fuhr die Gerichtsmedizinerin fort. »Sodass ich davon ausgehen würde, dass sie schon mindestens zwei, wahrscheinlich sogar drei Tage keine Flüssigkeit mehr zu sich genommen hat.«
    »Das heißt, dass er sie schon länger in seiner Gewalt hatte«, schloss Decker.
    Dr. Bechstein nickte. »Das Tempo einer solchen Austrocknung ist natürlich stark von den äußeren Bedingungen abhängig.« Sie sah sich achselzuckend um. »Hier drin ist es feucht und kühl, sodass sich eine lebensbedrohliche Exsikkose vermutlich erst nach drei bis vier Tagen einstellen würde.«
    Zhou ging langsam um die Truhe herum, wobei sie penibel darauf achtete, keine Spuren zu zerstören. »Die ist aber nicht eingeschaltet, oder?«
    Capelli schüttelte den Kopf. »Das war auch mein erster Gedanke«, gab sie zu. »Aber es gibt nicht mal mehr einen Stecker.«
    »Trotzdem hat der Täter die Truhe ganz offenbar gereinigt«, sagte Decker.
    »Genau wie den Vorraum«, brummte Capelli.
    Nicht den ganzen Vorraum, korrigierte Zhou sie in Gedanken. Er hat nur einen Teil gereinigt. Eine Art Weg …
    Gedankenverloren starrte sie die rostzerfressene Rückseite der Truhe an. Die Spuren im Staub erinnerten sie unwillkürlich an diese Miniatur-Zen-Gärten, die sich die Asien-Fans unter den europäischen Führungskräften hin und wieder auf ihre Schreibtische stellten, weil sie dergleichen für chic hielten. Diese Kare-san-sui genannten, traditionell pflanzenlosen Gärtendienten – egal, ob es echte Gärten waren oder lediglich Miniaturausgaben – in erster Linie der Meditation und der Beruhigung des Geistes, wobei insbesondere dem Rechen von Linien und Mustern eine große Bedeutung beikam.
    Zhou blickte zur Tür hinter sich, während sie überlegte, wo der Täter den Besen gelassen haben mochte. Hatte er ihn mitgebracht und anschließend auch wieder mitgenommen? Oder war er noch hier, irgendwo auf dem Gelände?
    »Gottverdammte Scheiße!«, rief in diesem Augenblick Dr. Bechstein, und Zhou registrierte etwas, das wie ein plötzlicher Ruck ihre umstehenden Kollegen durchzuckte. Die Schockwelle eines elementaren Schreckens, als ob ein heftiger Stromschlag direkt durch ihre Körper gejagt würde.
    Sie drehte sich zu den beiden Männern um, die auf Dr. Bechsteins Geheiß die Tote aus der Truhe heben sollten, und für ein paar flüchtige Sekunden hatte sie das Gefühl, dass ihr die Beine wegsackten.
    »Gütiger Himmel!«, stöhnte Capelli mit gepresster Stimme, während einer der Beamten neben ihr ein unterdrücktes Würgegeräusch von sich gab.
    Letzteres konnte Zhou ohne Probleme nachvollziehen: Der kleinere der beiden Träger, ein bärtiger Mann von etwa vierzig, hatte seine behandschuhten Hände noch immer unter den Achseln der Toten, doch die Frau war buchstäblich auseinandergefallen. Becken und Beine hatte sein Kollege im ersten Schrecken wieder losgelassen. Der Oberkörper hing schlaff und blutig in den Armen des Bärtigen, auf dessen kalkweißer Stirn ein paar unübersehbare Schweißperlen standen.
    Bestürzt blickte Zhou auf das zerfetzte Fleisch hinunter, das einmal der Bauch der Toten gewesen war. Aus dem abgetrennten Becken ragte etwas Weißes. Vermutlich ein Wirbel.
    Capelli fing sich als Erste. »Er hat sie in der Mitte durchgesägt?«, fragte sie mit zittriger Stimme.
    Dr. Bechstein nickte nur stumm vor sich hin.
    »Postmortal?« Decker nestelte hektisch am Reißverschlussseiner Jacke, und so, wie er das sagte, klang es fast wie eine Bitte.
    Die Pathologin blickte ihm direkt in die Augen, und Zhou kannte die Antwort, noch bevor sie den Mund aufmachte: »Ich fürchte nein.«
    Jemand flüsterte: »Oh, mein Gott.«
    Ein anderer rief: »Scheißkerl.«
    Dann legte sich ein tiefes, fassungsloses Schweigen über die Anwesenden. Einige endlos lange Sekunden standen sie vollkommen regungslos da, als habe man alles Leben in ihnen einfach ausgeknipst. Doch dann kam, wie auf ein geheimes Stichwort hin,

Weitere Kostenlose Bücher