Sieg der Herzen
hinauf.
Erst als sie sich entkleidet, ein Nachthemd angezogen und sich ins Bett gelegt hatte, wurde ihr klar, dass Jamie dort war. Als sich ihre Augen an das Halbdunkel gewöhnt hatten, konnte sie im Schein der Kerze das Haar des Kindes, das weiße Nachthemdchen und schließlich das schmale, blasse Gesicht erkennen.
»Wird er wiederkommen, Miss Olivia?« Die Frage war herzzerreißend flehend. »Ich habe gehört, wie die Tür zufiel, und als ich zum Fenster gegangen bin, sah ich ihn die Straße hinaufgehen.«
Olivia seufzte und schüttelte ihr Kissen aus. »Ich weiß es nicht, Jamie«, antwortete sie traurig.
»Habe ich etwas Falsches getan? Vielleicht hätte ich ihn nicht dauernd beim Schach schlagen sollen ...«
Olivia war es nach Weinen zumute, doch sie wusste, dass sie durch Tränen das Kind noch mehr beunruhigen würde, als es durch Jacks Fortgehen bereits war. So schlang sie einen Arm um Jamies Schultern und drückte sie leicht. »Nein, Liebling. Es hat nichts mit dir zu tun.«
»Ehrlich?«
»Ehrlich.«
Jamie kuschelte sich noch näher an Olivia, wie ein Kätzchen, das sich neben seiner Mutter zusammenrollt. Ihre Stimme klang sehr leise und verzagt. »Ich möchte, dass er zurückkommt.«
Ein weiteres Seufzen entfuhr Olivia. Sie fühlte sich, als hätte jemand ihr Herz gebrochen; als sei es rissig geworden wie hartes Erdreich nach einer langen Dürre. Und stumm verspottete sie sich selbst, weil sie genau wusste, dass es niemals anders gewesen war. Im Laufe der Jahre hatte sie oft unter der Bezeichnung »alte Jungfer« und Ähnlichem gelitten, und jetzt würde bald alles wieder so sein wie früher. Sie würde wieder so einsam leben wie früher, als sie nicht auf die Schritte und die Stimme eines Mannes gelauscht hatte.
»Das möchte ich auch«, erwiderte sie schließlich auf Jamies Worte. »O ja, Jamie - ich wünsche ebenfalls, dass Mr McLaughlin zurückkommt. Aber ich weiß nicht, ob er hier bei uns bleiben kann.«
»Ich hatte gehofft, wir könnten vielleicht eine Familie sein«, vertraute Jamie ihr an. »Er und du und ich. Die McLaughlins.«
Olivia blinzelte. »Vielleicht können wir beide eine Familie sein, nur du und ich.«
Jamie schien dazu bereit zu sein, doch ihre Stimme klang zweifelnd. »Es wäre aber nicht das Gleiche«, meinte sie. »Oder?«
»Nein«, gab Olivia zu. »Es wäre nicht das Gleiche. Aber das schließt nicht aus, dass wir glücklich sein könnten, nur du und ich.«
»Kann ich in deinem Bett bei dir bleiben? Bis zum Morgen?«
» Ja«, antwortete Olivia nach reiflicher Überlegung. »Nur für heute Nacht.«
Danach schlief Jamie ein, während Olivia hellwach dalag und dem kalten Winterwind lauschte, der über die Ebene um Springwater fegte und an den Fensterläden der Häuser rüttelte. Als sie hörte, dass die Hintertür geöffnet und geschlossen wurde, ermahnte sie sich, im Bett zu bleiben, doch sie schaffte es nicht. Sie konnte einfach nicht der Versuchung widerstehen, aufzustehen, ihren Morgenrock anzuziehen und über die hintere Treppe zur Küche zu eilen.
Er war da, stand am Herd und hielt die Kanne mit kaltem, abgestandenem Kaffee in der Hand.
»Sie sind da«, sagte sie. Sie hoffte, dass es nicht zu glücklich Wang, aber sie bezweifelte es.
Er schenkte ihr ein verlegenes, schiefes Lächeln. »Ich kann anscheinend nicht mehr so viel Whisky vertragen«, bekannte er. »Vielleicht auch nicht mehr davonlaufen.«
Sie hätte gern mehr Fragen gestellt, unzählige, doch sie wollte nicht den kostbaren Frieden zwischen ihnen gefährden und ihn vergraulen, sodass er wieder in die Welt hinausgehen und vielleicht niemals mehr zurückkehren würde. Sie zog einen Stuhl vom Tisch heran und stellte ihn nahe beim Herd hin.
»Ich habe noch niemals einen Mann rasiert«, sagte sie, »aber ich habe immer Tante Eloise das Haar geschnitten.«
Er starrte sie an, sichtlich ebenso überrascht von ihren Worten wie sie selbst. »Sie wollen mir die Haare schneiden? Mitten in der Nacht?«
Sie lächelte. »Sie sind wankelmütig. Wenn ich bis morgen warte, könnten Sie es sich anders überlegt haben.«
Er grinste. »Also gut. Ich muss zugeben, dass ich es leid bin, mich hinter Gestrüpp zu verstecken.«
Olivia lachte, leise, denn sie wollte Jamie nicht aufwecken. »Setzen Sie sich«, forderte sie ihn auf, und als er gehorchte, holte sie ihre Schere.
Er hatte jede Menge Haare, nach Olivias Einschätzung genug für zwei oder drei Männer. Und als sie die Haarfülle auf eine ordentliche Länge
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