Sieg der Herzen
Olivia ihre Notenblätter einsammelte, um nach Hause zu gehen, wo sie noch das Abendessen machen und Jamie bei ihrem fortwährenden Kampf mit dem Alphabet beaufsichtigen musste, kam June zu ihr. Mrs McCaffrey war fast ständig bei den Proben anwesend, hatte selbst eine wohlklingende und starke Singstimme, wirkte jedoch in jüngster Zeit zerstreut, irgendwie nicht ganz bei der Sache. Ihr Blick war nach innen gerichtet, als ob sie unter einem Zwiespalt litte, und Olivia war von Schuldgefühlen erfüllt.
Olivia war manchmal bedrückt, denn sie musste an Jack denken, an Junes Verlust und an all das, was diese gute Frau und ihr ebenfalls guter Mann in all den Jahren, in denen sie ihre Söhne tot gewähnt hatten, mitgemacht hatten. Sie war natürlich nie selbst Mutter gewesen und würde es vielleicht niemals werden, aber es war ihr klar, dass der Verlust eines Kindes ein schrecklicher Schicksalsschlag war, der selbst die stärksten Männer und Frauen auf die Knie zwingen konnte.
Aus einem Impuls heraus ergriff sie Junes kühle, überraschend glatte Hand und drückte sie. »Was ist?«, fragte sie leise. »June - Mrs McCaffrey, sind Sie krank? Soll ich Jacob oder Doktor Parrish holen lassen?«
June schüttelte den Kopf und gab ein kurzes und wehmütiges Lachen von sich, das jedoch nichts von ihrer üblichen Munterkeit hatte. »Nennen Sie mich June, oder ich gebe keine Antwort«, sagte sie, und Olivia erhaschte eine Spur des alten Feuers in diesen intensiv blauen Augen. Augen, die jetzt Trauer widerspiegelten und dieselbe Farbe hatten wie die von Jack McLaughlin. Es war ein Schock für Olivia, dies festzustellen, obwohl es angesichts ihrer Entdeckung keiner hätte sein sollen. »Nein«, fuhr June fort. »Ich bin nicht krank. Ich fühle mich nur ein wenig schlapp, das ist alles.«
Olivia wollte mit ihrem Wissen herausplatzen, aber genau darin lag das Problem. Sie wusste schließlich nur wenig über die Sache, und Jack hatte eigentlich niemals etwas zugegeben, was seine Identität anbetraf. Wenn sie erzählte, dass sie guten Grund zu der Annahme hatte, dass Jack McLaughlin in Wirklichkeit Will McCaffrey war, konnte sie nur Schaden anrichten. So schmerzlich es auch war, untätig und ohne zu helfen zu beobachten, wie sich das Drama entwickelte, dies war zweifellos das richtige Verhalten. »Kann ich irgendwie helfen?«, fragte Olivia sehr leise.
»Nun, ja«, antwortete June und zeigte ein kurzes, zaghaftes Lächeln, das so sehr Jacks Lächeln ähnelte. »Sie können etwas tun, Olivia. Wir haben am Sonntagnachmittag unser Nähkränzchen, drüben in der Station. Wir wüssten es zu schätzen, wenn Sie uns Gesellschaft leisten.«
Olivia war äußerst erfreut. Es war immer noch neu für sie, immer noch kostbar, akzeptiert zu werden und das Gefühl zu haben, zur Gemeinschaft von Springwater dazuzugehören. Wenn nur Jack bleiben und an allem teilhaben würde. »Ich werde gern kommen«, sagte sie ehrlich.
June hob das Kinn, verstärkte ihr Lächeln ein wenig und ergriff Olivias Hand, um sie zu drücken. »Gut. Wir werden uns gleich nach der Kirche versammeln. Bringen Sie die Kleine mit, wenn Sie möchten. Es wird genügend zu essen da sein.«
»Danke«, sagte Olivia tief bewegt. Jacks Name hing unausgesprochen zwischen ihnen, und nicht zum ersten Mal fragte sich Olivia, wie viel June bereits spüren mochte. Ahnte sie, in einem tiefen und unerforschten Teil ihres Seins, dass der Fremde, der sich in der Pension versteckte, ihr eigener Sohn war?
Die beiden Frauen trennten sich, und Olivia schloss die Kirche ab und machte sich auf den Nachhauseweg. Jamie hüpfte neben ihr her. Der Schnee lag hoch und war bereits vom Licht des Wintermonds gefärbt. Seit fast einer Woche war der Himmel klar, tagsüber blau, des Nachts mit silbernen Sternen gesprenkelt.
Olivia fragte sich, weshalb sie noch nie bemerkt hatte, wie schön die Welt sein konnte. Bei allem Krieg und Kummer und aller Krankheit - oder genauer trotz all dieses Elends - war hier der beste Ort und jetzt die schönste Zeit zum Leben.
Lichtschein aus ihren Küchenfenstern verriet, dass Jack von der Mine heimgekehrt war und im Haus herumging, anstatt in seinem Zimmer zu brüten, wie er das oft tat. Olivias Herz schlug schneller bei der Vorstellung, ihn nur zu sehen, das blonde Haar, das im Lampenschein golden schimmerte, seine unbewusst lässigen Bewegungen, die einzigartige Mischung aus Mutwillen und Charakter in seinen markanten Gesichtszügen.
Ja, da war er, gebadet und
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