Sieg der Herzen
»Ein Jungenname, nichts anderes. Als Nächstes wird sie sich >Albert< oder >John< nennen. Dieses unmögliche Mädchen treibt mich eines Tages noch in den Wahnsinn!«
Olivia wartete. Sie fühlte sich wie eine Seiltänzerin in schwindelnder Höhe. Ein falscher Schritt, und sie würde abstürzen und sich nicht nur sämtliche Knochen, sondern auch Herz und Seele brechen.
»Trotzdem bin ich wohl für meine Nichte verantwortlich, Miss - Darling«, fuhr die ältere Frau fort, mehr in mürrischem Selbstgespräch. »Ich könnte nicht leben, wenn ich das Kind meiner Schwester in der Obhut einer - verzeihen Sie mir - einer ... äh ... Frau aus einer Absteige wüsste.«
Sie sagte »Äh ... Frau aus einer Absteige«, als meine sie Prostituierte aus einem Bordell. Olivia straffte die Schultern und holte Luft, um Priscilla Turnbull die Meinung zu sagen, doch bevor sie ein Wort hervorbringen konnte, sprach Jack, der hinter ihr aufgetaucht war.
»Miss Olivia wird sehr bald eine respektable verheiratete Lady sein, wenn ich etwas dazu sagen darf«, erklärte er, und als Olivia zu ihm herumfuhr, sah sie ein breites Grinsen auf seinem soeben gewaschenen Gesicht, das ihr so eindrucksvoll vorkam wie der Sonnenaufgang im Gebirge. »Ich werde stolz sein, sie zur Gattin zu haben.«
Olivias Gesicht und etwas Intimeres wurde heiß vor Überraschung, und sie starrte ihn an, doch Jacks Miene blieb schelmisch. Er wirkte wie ein fröhlicher Schuljunge, wie er dort auf der Schwelle des Wohnzimmers stand, nicht wie ein ehemaliger Bandit, der auf die 40 zuging.
»Und wer sind Sie?«, fragte Miss Priscilla Turnbull; sie bemühte sich um eine missbilligende Miene und war dennoch sichtlich bezaubert.
Jack durchquerte das Wohnzimmer und reichte ihr die Hand, während er gleichzeitig eine leichte, aber königliche Verbeugung vor Miss Turnbull andeutete. »Wesley J. McCaffrey«, sagte er. »Das J steht für Jacob.«
Wesley McCaffrey? Nicht Will?
Olivia starrte ihn an. Sie wurde mit jeder Sekunde verwirrter. Jamie war in Wirklichkeit Martha Sue, und Jack McLaughlin war überhaupt nicht Jack McLaughlin und auch nicht Will McCaffrey? Sie kam überhaupt nicht mehr zurecht.
Als Miss Turnbull Jack - Wesley - die Hand reichte, neigte er sich darüber und hauchte einen Handkuss darauf. Und als er die Hand lange, lange hielt und sie dann wie widerstrebend losließ, verspürte Olivia eine Spur von Eifersucht und hätte ihm am liebsten einen Tritt versetzt.
Miss Turnbull hingegen klimperte in einer Art und Weise mit den Wimpern, die man nur als kokett bezeichnen konnte, und drückte eine Hand auf ihren fülligen Busen. »Du lieber Gott!«, hauchte sie.
»Das kann man wohl sagen«, fügte Olivia mit einem scharfen Unterton hinzu. Wie konnte er es wagen, Gerüchte über das Thema Ehe zu verbreiten? Es war eine heilige Sache.
Wesley bedachte sie mit einem neckenden Seitenblick. Die Intimität in diesem Blick führte bei Olivia zu einem solchen Aufruhr der Gefühle, dass sie einen Augenblick glaubte, dass Flattern von Schmetterlingen in ihrem Magen zu spüren. Nur mit äußerster Willenskraft schaffte sie es, sich nicht auf ihrem Stuhl hin und her zu winden.
»Wir können dem kleinen Mädchen ein schönes Zuhause bieten, nicht wahr, Liebste?«, sagte Jack - Wesley - mit einem Lächeln, das jede alte Jungfer einfach bezaubern musste - so auch Miss Priscilla Turnbull.
Olivia schluckte. Hatte der Mann den Verstand verloren? Miss Turnbull würde niemals ihre Nichte an Fremde weggeben, nur einfach, weil sie heiraten würden - oder? Außerdem würden sie gar nicht heiraten.
Oder?
»Ja«, pflichtete sie ihm schließlich bei, »Liebster.«
Seine blauen Augen funkelten belustigt; er wusste natürlich genau , wovon er sprach, während sie noch im Dunkeln tappte. »Nun«, sagte er, »ich entschuldige mich jetzt besser. Ich bin nicht auf die Gesellschaft feiner Damen vorbereitet, wie Sie sehen können. Bitte verzeihen Sie - ich komme soeben von der Arbeit.« Betrübt wies er auf seine schmutzige Kleidung, und abermals war etwas Gewinnendes, Rührendes an seiner Geste, die an die eines kleinen Jungen erinnerte, der sich bemüht hatte, brav zu sein, und dennoch seine beste Sonntagskleidung ruiniert hatte.
»Ich werde einige Zeit brauchen, um mir dies durch den Kopf gehen zu lassen«, flötete Miss Turnbull und klimperte wie wild mit den Wimpern, wie Olivia fand.
Du wirst einige Zeit dazu brauchen ? , dachte Olivia. Stell dir nur mal vor, du blöde Ziege, wie das
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