Sieg der Herzen
Vielleicht war es so, dass Kinder solche Dinge einfach irgendwie wussten, durch einen zusätzlichen Sinn, der dann bald verloren ging.
Er seufzte. Da hatte sie ihn. »Nein«, bekannte er. »Meine Mama und mein Daddy nannten mich Wesley.«
»Nun, ich hatte keinen Daddy, und meiner Mama fiel kein vernünftiger Name ein, und so li eß mich Miss Priss, diese blöde Ziege, >Martha Sue< taufen.« Sie gab ein höhnisches Schnauben von sich, um auszudrücken, was sie davon hielt. »Um Himmels willen. Niemand, der mich ansieht, hält mich für eine Martha Sue.«
Wesley neigte den Kopf, um unter das Bett zu spähen und sie nachdenklich und sorgfältig zu mustern. Olivia hätte sich genauso gut im Holz des Bettgestells verkriechen können, denn keiner der beiden schenkte ihr die geringste Beachtung. Aber das machte ihr nichts aus, denn trotz allem, trotz all der Unsicherheiten und Komplikationen, war sie in diesem Moment absolut glücklich.
»Nun«, antwortete er nach reiflicher Überlegung, »ich nehme an, es stimmt. Ich hätte vielleicht auf Susan getippt. Oder vielleicht auf Margaret. Aber auf Martha Sue? Nicht in hundert Jahren.«
»Margaret gefällt mir«, räumte Jamie ein. »Wenn ich dein Mädchen wäre, würde ich dann Margaret McLaughlin sein?«
Olivia schluckte hart.
»Nein«, antwortete Wesley. »Du würdest Margaret McCaffrey sein.«
Olivia schloss die Augen. Bitte - mach ihr keine falschen Hoffnungen. Oder mir.
»Eine Bedingung habe ich jedoch«, fuhr er fort. »Wenn du meine Tochter sein wirst, dann musst du dir einen Namen aussuchen und ihn behalten.« Er blickte kurz zu Olivia. »Andernfalls könnte ich auf den Gedanken kommen, du hast nicht wirklich vor, bei uns zu bleiben.«
»McCaffrey?«, fragte Jamie - Martha Sue - Margaret. »Bist du verwandt mit June und Jacob?«
Er nickte. »Sie sind meine Mama und mein Daddy.«
»Du bist ein erwachsener Mann und nennst sie so? Mama und Daddy?«
Er grinste. »Ja. So ist es bei uns unten im Süden. Daher komme ich - aus Tennessee.«
»Du kehrst aber nicht dorthin zurück, nicht wahr? Nach Tennessee, meine ich.«
Abermals schaute er kurz zu Olivia. »Das kommt darauf an«, sagte er. Dann, in einem meisterhaften Streich, nahm er eine seiner wenigen verbliebenen Schachfiguren und stellte Jamies König matt. »Schachmatt. Ich habe gewonnen. Komm unter dem Bett hervor.«
Jamie wich zurück wie eine Schnecke, die sich in ihr Haus zurückzieht. Ihre Kleinmädchenstimme klang schwach unter der Matratze hervor. »Nein.«
»Das ist aber nicht fair«, sagte Wesley ruhig und ohne Arger. »Wenn ich beim Schach verliere, halte ich immer meine Wetten ein.«
»Ich habe aber nicht gewettet«, ertönte es unter dem Bett. »Und ich bleibe hier, bis sie fort ist.«
Wesley seufzte resigniert. »Also gut«, sagte er, sammelte die Schachfiguren zusammen, nahm das Brett und stand auf. »Du wirst uns beim Abendessen fehlen.«
Damit durchquerte er das Zimmer, nahm Olivia sanft am Ellenbogen und zog sie mit sich aus dem Zimmer, über den Gang und die hintere Treppe hinab.
»Was soll nun werden?«, wisperte Olivia, als sie in der Küche ankamen. Schnee säumte den unteren Rand der Fensterscheibe über dem Spülbecken und schränkte den Ausblick ein.
»Mit Jamie?« Er zuckte mit den Schultern. »Einfach abwarten. Sie wird herauskommen, wenn sie hungrig wird oder auf die Toilette muss.«
»Das meinte ich nicht«, erwiderte Olivia, vielleicht ein wenig schnippisch. Ihre Nerven waren aufs Äußerste gespannt; sie, die ihre Gefühle stets so gut unter Kontrolle gehabt hatte, drehte jetzt durch wie eine Windmühle, die dem Sturm ausgeliefert ist. »Ich kenne Frauen wie Priscilla Turnbull - meine eigene Tante war von genau der gleichen
Art. Für sie zählt nur ihr eigenes Wohlergehen. Sie sind nicht freundlich. Nicht fair. Sie tun nur das, was sie für ihre Pflicht halten.«
Wesley umfasste leicht ihre Schultern. »Ich nehme an, wir sollten jetzt über dich reden und nicht über Jamie?«
Olivia wich der Frage aus, konterte mit einer eigenen. »Wirst du dir wieder einen anderen Namen einfallen lassen, gerade wenn ich mich daran gewöhnt habe, dass du Wesley statt Jack bist?«
Er lächelte und küsste sie auf die Nasenspitze. Wenn Miss Turnbull sie so schmusen gesehen hätte, wäre es vermutlich das Ende von Olivias Hoffnung gewesen, das Kind zu behalten, doch sie brachte es nicht über sich, sich zurückzuziehen. Außerdem war es unwahrscheinlich, dass die Frau die Wärme der
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