Sieg der Liebe
ihren Puppen am Tisch spielte, sobald das Tischtuch entfernt worden war. Vater schimpfte nie, wenn nach einer stürmischen Umarmung Erdbeermarmelade auf seinem weißen Leinenhemd zurückblieb, und er lehnte auch nicht ab, wenn sie bettelte, zu den Docks mitgenommen zu werden. Mit ihr hatte er gelacht, in seinen Armen durfte sie sich ausweinen. Niemals hatte sie daran gezweifelt, daß er sie so liebte, wie ein Vater seine Tochter nur lieben konnte.
Und doch dachte sie nicht daran, daß Michel die Geschichte nur erfunden hatte. Tief im Herzen wußte sie, daß er die Wahrheit gesagt hatte.
Zwei Schicksale, zwei Väter. Das Schicksal hatte sie auf die Seite der Sieger gebracht, während Michel alles verloren hatte. Und jetzt glaubte er, das Gleichgewicht wiederherzustellen.
Sie hatte jedes Gefühl dafür verloren, wie lange sie hier gesessen haben mochte, und stand unsicher auf. Die Schatten der Bäume unten auf der Straße waren länger geworden, und der Geruch nach gebratenen Zwiebeln aus dem Küchenfenster verriet ihr, daß man mit den Vorbereitungen für das Abendessen begonnen hatte. Michel hatte nicht gesagt, wann er zurückkehren würde, doch wahrscheinlich würde er vor Sonnenuntergang wieder dasein.
Denk nach, Jerusa, denk nach! Er hat dir die ganze Zeit über gesagt, daß er dich haben wollte, und jetzt weißt du, warum! Du kannst jetzt gehen, solange er glaubt, daß du zu verwirrt bist, um irgend etwas zu entscheiden. Oder du kannst hierbleiben und warten, bis ersieh an dir rächen wird!
Sie atmete tief ein, um sich zu beruhigen. In gewisser Weise hatte er ihr die Flucht erleichtert. In einer Stadt, die wie diese einen Hafen hatte, bestand für sie die Möglichkeit, jemand zu finden, der ihren Vater oder ihre Brüder kannte, und so, wie sie jetzt angezogen war, würde man ihr sicherlich glauben, daß sie tatsächlich diejenige war, für die sie sich ausgab.
Während sie sich das Haar zusammenband, erinnerte sie sich unwillkürlich an die intimen Momente, in denen Michel es gekämmt hatte. Energisch verdrängte sie die Gedanken. Sie hatte sich lange genug in sein Spiel hineinziehen lassen. Es wurde höchste Zeit, sich klarzumachen, daß sie Jerusa Sparhawk war, und aufzuhören, diese erfundene Mrs. Geary zu spielen.
Jerusa bückte sich, um ihre Schuhe zu schließen, und lächelte, als sie sah, daß er seine Satteltasche auf dem Boden neben dem Bett zurückgelassen hatte. Obwohl Michel arm geboren war, schien er jetzt nicht gerade in Geldnot zu sein, und wann immer er etwas bezahlt hatte, hatte er die Münzen aus einem Lederbeutel in der Satteltasche genommen. Sie hatte nicht die Absicht, ihn wirklich zu bestehlen, aber sie mußte sich ein wenig Geld für die Heimreise borgen.
Rasch öffnete sie die Tasche und sah hinein. Sie entdeckte einige Hemden, Tabak, eine Tonpfeife und eine der Pistolen mitsamt dem dazugehörigen Schießpulver und den Kugeln.
Behutsam hob sie die Waffe mit beiden Händen hoch und überlegte, ob sie sie ebenfalls mitnehmen sollte. Sie war schwerer als die Pistolen, mit denen zu schießen ihr Vater ihr beigebracht hatte. Der Lauf war so lang wie ihr Unterarm und der Abzug poliert und geölt mit der Umsicht eines Mannes, der wußte, daß er mit der Waffe sein Leben retten konnte.
Widerstrebend legte sie sie zurück auf den Boden der Tasche. Es gab keine Möglichkeit für eine Frau, eine solche Waffe bei sich zu tragen, jedenfalls nicht heimlich.
Sie strich mit den Fingerspitzen über das Futter der Tasche auf der Suche nach einer Öffnung, hinter der der Geldbeutel verborgen sein könnte. Sie fand etwas und zog es hervor. Doch statt des Beutels voller Münzen war es ein flaches, in weiches Leder eingewickeltes Päckchen.
Neugierig öffnete sie es. Drinnen lag ein kleines Porträt in einem Messingrahmen, das eine schwarzhaarige junge Frau zeigte. Ihr herzförmiges Gesicht war dem Maler zugewandt, die Lippen zu einem Lächeln verzogen, und ihre feinen Brauen waren in immerwährendem Erstaunen hochgezogen.
Vorsichtig drehte Jerusa das Bild herum, aber auf der Rückseite war kein Name und auch keine Inschrift, die ihr verriet, wer das schöne Modell war. Vermutlich ist es Michels Geliebte, wenn er das Porträt bei sich trägt, dachte Jerusa mit einem Anflug von Eifersucht.
Das Klopfen an der Tür war so heftig und erschreckte sie so sehr, daß sie das Bild in die Tasche warf.
„Mrs. Geary, Madam?“ fragte das Dienstmädchen draußen, das eine von Mrs. Cartwrights Töchtern sein
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