Sieg der Liebe
fragte sich, warum Michel jetzt von ihrem
Bruder sprach. „Jonathan ist im April sechsundzwanzig geworden.“
„Genauso alt wie ich. Hast du das gewußt, ma cherie ? Ich wurde ebenfalls im April 1745 geboren. Aber während dein Bruder mit beiden Eltern gesegnet war, bin ich es leider nicht. Deine Eltern haben an Bord der Schaluppe deines Vaters geheiratet, nicht wahr? Oder eigentlich auf der deiner Mutter, denn von Rechts wegen gehörte die Revenge noch immer ihr. Das war im September 1744, und dein Großvater war dabei, um seinen Segen zu geben. “
„Das stimmt“, sagte sie mit schwacher Stimme und fühlte sich noch unbehaglicher, weil Michel über Dinge Bescheid wußte, über die ein Außenstehender keine Ahnung haben konnte. „Aber wieso sollte irgend etwas davon für dich von Interesse sein?“
Es war der vorwurfsvolle Ton in ihrer Stimme, der Michel schließlich innehalten ließ. Er hatte ihr nichts davon sagen wollen, nicht hier und noch nicht jetzt, aber nachdem er einmal begonnen hatte, war es ihm unmöglich gewesen, die Namen, Daten und Umstände nicht aufzusagen, die er seit seiner Geburt immer wieder gehört hatte.
Aber vielleicht war es besser so. Wenn Jerusa die Wahrheit kannte, so wie seine Mutter sie ihm erzählt hatte, würde sie aufhören, ihn für etwas Besseres zu halten, als er tatsächlich war. Jerusa würde ihn verachten, wie er es verdiente, und er wäre frei, den Wunsch seiner Mutter zu erfüllen und das Andenken seines Vaters zu ehren.
Michel würde sich nicht erlauben, die andere Alternative zu überdenken. Daß Jerusa die Wahrheit hören, verstehen und verzeihen könnte. Morbleu, das verdiente er nicht.
„Warum, Michel?“ fragte sie noch einmal. „Warum erzählst du mir alle diese Dinge?“
„Um dir die Launen des Schicksals zu zeigen, ma cherie“, erwiderte er bedächtig. „Du mußt nur die Monate zählen, um festzustellen, daß dein Bruder gezeugt wurde, lange ehe deine Eltern verheiratet waren. “
„Aber das kann nicht sein.“ Jerusa rang die Hände in ihrem Schoß, als sie an die Warnungen ihrer Mutter dachte. Sie konn-te niemals zugelassen haben, daß ihr Ruf auf diese Weise ruiniert wurde, nicht einmal von einem Mann wie Gabriel Sparhawk. Aber wie Michel gesagt hatte, mußte sie, Jerusa, nur die Monate zählen, um die schreckliche Wahrheit zu erfahren, die ihre Eltern niemals verheimlicht hatten.
„Zwei Jungen, Jerusa, zwei Schicksale“, fuhr Michel leise fort, während er die letzte Klette aus ihrem Haar kämmte. „Denk gut darüber nach. Einer von uns war dazu bestimmt, der älteste Sohn eines wohlhabenden, angesehenen Gentleman zu werden, während der andere als Bettler und Bastard zurückblieb. Zwei Jungen, ma belle, zwei Schicksale.“
Weil sie es nicht merken würde, wagte Michel es, eine Strähne ihres Haares kurz an seine Lippen zu heben. „Und zwei Väter, ma cherie“, flüsterte Michel heiser und verriet damit die Gefühle, die ihn verwirrten. „Unsere Väter.“
Sie hatte die Wahrheit erkannt, denn er fühlte, wie sie erschauderte, als die Last sich auf ihre Seele legte. Mit einem leisen Aufschrei neigte sie den Kopf, und er breitete ihr dunkles Haar behutsam wie einen Umhang über ihren Schultern aus, ehe er zum Bett ging, um Hut und Mantel zu holen.
Er bewegte sich fast lautlos und zog die Tür genauso leise hinter sich zu, wie er sie zwei Stunden zuvor geöffnet hatte.
11. KAPITEL
Ihr Vater hatte Michels Vater getötet.
Nein, niedergemetzelt war das Wort, das Michel benutzt hatte. Ihr Vater hatte seinen niedergemetzelt. Ihr eigener Vater.
Starr blickte sie aus dem Fenster, ohne etwas zu sehen. Natürlich hatte sie gewußt, daß er ein Kaperer war, der erfolgreichste Kapitän, der jemals von Newport gesegelt war. Seit ihrer Kindheit hatte sie gehört, daß die Freunde ihres Vaters darüber scherzten, wie gnadenlos er in einem Gewerbe gewesen war, das kaum mehr war als legalisierte, profitträchtige Piraterie. Sie erinnerte sich, daß ihre Brüder als Kinder vor ihren Freunden damit geprahlt hatten, wie viele französische und spanische Schufte ihr Vater getötet hatte. Und er hatte gelacht, wenn er sah, wie sie mit hölzernen Schwertern und Pistolen spielten und so taten, als würden sie eine französische Fregatte verbrennen.
Aber bisher hatte sie darüber nie ernsthaft nachgedacht. Für sie war ihr Vater gutmütig, geduldig, dem sie als Kind nach dem Essen auf den Schoß klettern durfte und der ernsthaft zuhörte, wenn sie mit
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