Sieg der Liebe
fühlte die gleiche Leichtigkeit wie an jenem ersten Tag, als sie Michel davongelaufen war. Aber diesmal würde es anders sein, denn diesmal würde es ihr gelingen.
Rasch ging sie die Straße entlang und blieb an der Ecke stehen, um sich zu orientieren. Sie kannte Seabrook zwar nicht, doch der Straßenplan glich jeder anderen Stadt in New England, die um einen Hafen herum angelegt worden war. Jede Straße verlief entweder parallel oder senkrecht zum Wasser. Von ihrem Fenster im Gasthaus aus hatte sie im Osten die Mastspitzen und aufgerollten Segel gesehen, und auf die eilte sie jetzt zu.
Schiffe waren ihr vertraut und eine willkommene Erinnerung an Zuhause. Obwohl sie kurz in Erwägung zog, die Konstablerwache aufzusuchen, glaubte sie, daß sie mit größerer Wahrscheinlichkeit einen Seemann davon überzeugen könnte, eine Sparhawk zu sein, als einen aufgeblasenen Konstabler. Seabrook war nicht so weit von Newport entfernt. Sicher fand sie irgendwo in diesem kleinen Hafen einen Matrosen, der ihren Vater kannte. Vielleicht würde der Seemann die Familienähnlichkeit in ihrem Gesicht bemerken und ihr glauben.
Aber so wie fast jede Straße in einer Hafenstadt zum Wasser führte, so war die Hafengegend in jeder Stadt das verrufenste Viertel. Seabrook bildete keine Ausnahme. Es war zwar kleiner als Newport, doch auch Seabrook hatte viele Speicher und Lagerhäuser, Krämer und Ausstatter, ebenso Tavernen, Schenken und Zimmer für jeden Geschmack und Geldbeutel.
Es war schon später Nachmittag. Hafenarbeiter und einige Fischer gingen bereits durch die Gassen nach Hause zu ihren Familien. Andere trafen sich mit Freunden in den Rumschenken. Sie brachten ihre gefüllten Becher nach draußen und setzten sich auf die schäbigen Bänke.
Hocherhobenen Hauptes ging Jerusa an ihnen vorüber und versuchte, ihre Bemerkungen zu überhören, so gut sie konnte. Die Männer hatten sie immer bewundert, doch diese groben, lüsternen Aufforderungen, die man ihr nachrief, waren neu für sie. Ihre Wangen waren hochrot, und ihr Herz klopfte wie wild. Sie wünschte sich, einen Umhang zu haben, der sie bis zu den Füßen verhüllte.
Sehnsüchtig dachte sie an die Waffe, die sie in Michels Satteltasche zurückgelassen hatte. Vielleicht hätte sie sie trotz allem mitnehmen sollen. Die Männer würden es nicht wagen, ihr nachzurufen, wenn sie diese Waffe bei sich hätte.
Schließlich kam sie an der breiten Mündung des Connecticut an, wo der Fluß ins Meer mündete. Aber anders als in Newport gab es hier nur drei kurze Anlegestellen, die ins Meer ragten, und nur vier Schiffe verschiedener Größe hatten dort festgemacht.
Jerusa zögerte. Woher sollte sie wissen, welche dieser Schaluppen und Schoner über einen freundlichen Kapitän verfügten, der ihr helfen könnte? Vielleicht war es trotz allem doch noch nicht zu spät, einen Konstabler aufzusuchen.
„Hast du dich verlaufen, Mädchen?“ fragte ein Mann hinter ihr, und ehe Jerusa antworten konnte, hatte er ihren Arm gepackt. „Suchst du einen Mann, der dich begleitet?“
„Ich bin nicht Ihr Mädchen, und ich suche nichts, was Sie mir geben könnten.“ Jerusa riß sich los und rieb die Stelle, an der er sie angefaßt hatte. Erbost sah sie den Mann an, der eine schmutzige Kniehose aus Baumwolle und ein gestreiftes Hemd mit einer karierten Weste trug. Er war jung, etwa in ihrem Alter, mit einem rötlichen Gesicht, das beinahe die gleiche Farbe wie sein kupferrotes Haar und sein Bart hatte. „Und wie kommen Sie darauf, daß ich mich verlaufen habe?“
Statt zu antworten, grinste der Mann sie vielsagend an. „Weil Sie hier herumirren wie ein verlassenes Lämmchen, darum.“ „Seien Sie nicht albern!“
„Oh, ich habe nicht die Absicht, albern zu sein“, sagte er, und sein Grinsen wurde breiter. „Sie tragen keine Haube, keinen Eimer, keinen Korb, und Sie sind so fein angezogen wie für den Sonntag. Vielleicht noch feiner.“
Insgeheim ärgerte Jerusa sich über ihre mangelnde Voraussicht. Der Mann hatte ganz recht, sie so einzuschätzen, wie er es tat, und sie ertappte sich dabei, daß sie sich vorzustellen versuchte, was Michel wohl in so einer Situation sagen würde.
Hatten all die Lügen ihr nicht genug Schwierigkeiten bereitet? Hatte sie vergessen, wie es war, wenn man die Wahrheit sagte?
Der Matin kam näher und streckte seine Hand nach ihr aus. „Dein Schäfer hätte besser auf dich aufpassen sollen, hübsches kleines Lämmchen, sonst kommt ein böser Wolf und holt dich.
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