Siegel der Nacht: Mercy Thompson 6 - Roman (German Edition)
aber ich wurde provoziert. Keine Entschuldigung von mir oder von dir – allerdings nehme ich den Hasen als Vorkasse. Aber wenn du mich jemals wieder so von oben herab behandelst, wird nicht mal ein saftiger Hase den Streit aufhalten können, den wir dann haben.«
Da es unfair war, dass ich als Einzige reden konnte, verwandelte ich mich zurück in einen Kojoten. Und da ich
Geschenke immer annehme, aß ich seinen Hasen. Außerdem machte mich streiten immer hungrig und ich hatte gerade keine Schokolade zur Hand.
Er fand es lustig, dass ich den zweiten Hasen fraß, ohne seine Entschuldigung anzunehmen – also war wieder alles in Ordnung. Ich rechnete damit, dass wir uns noch oft streiten würden, und überwiegend freute ich mich schon darauf. Das Leben mit Adam würde auch nie langweilig werden.
Wir waren auf dem Weg zurück zum Campingplatz, als wir das Boot fanden. Auf dem Hinweg war ich nicht direkt am Fluss entlanggelaufen. Stattdessen war ich einem der Kämme gefolgt, die sich am Canyon entlangzogen, und war so den paar Häusern und Weinbergen ausgewichen, die hier und dort verteilt lagen. Adam war meiner Spur gefolgt. Für den Rückweg entschieden wir uns für das Flussufer. Es war kurz nach Neumond und am Himmel hing nur eine dünne Sichel, aber die Sterne spiegelten sich im schwarzen Wasser.
Der Highway auf der Oregon-Seite des Flusses war immer befahren und auch die heutige Nacht bildete keine Ausnahme. Auf unserer Seite, der Washington-Seite, war es um einiges ruhiger: Der Fluss war breit und das Motorengeräusch der Autos nur ein leises Hintergrundgeräusch vor der Symphonie der Nacht. Einen Teil dieser Symphonie bildete das Geräusch eines Bootes, das gegen das Ufer schlug.
Ich hielt an, weil es kein Ort war, an dem ich ein Boot erwartet hätte. Sobald ich mich darauf konzentrierte, konnte ich Blut und Angst riechen – die Nachwirkungen
eines Kampfes. Ein kurzer Blick zu Adam zeigte mir, dass er es auch bemerkt hatte. Er hatte das Fell an seinem Rücken aufgestellt, auch wenn er kein Geräusch von sich gab.
Das Boot lag versteckt unter drei oder vier überhängenden Bäumen und dem umstehenden Gebüsch. Soweit ich sehen konnte – und ich schob mich um einiges näher heran, als es Adam möglich war –, war es eines dieser kleinen Fischerboote, ein Bassboat, die Art, in der höchstens zwei oder drei Leute Angeln gehen konnten. Klein genug, um noch mit Rudern vorwärtsbewegt zu werden, obwohl an diesem ein kleiner Außenbordmotor befestigt war. Wegen des Unterholzes konnte ich nicht ins Boot hineinsehen, aber ich konnte die Angst eines Mannes riechen und ihn reden hören.
»Bitte, lass es mich nicht finden. Lass es mich nicht finden.« Wieder und wieder, sehr leise, kaum ein Flüstern. Ich hatte seine genauen Worte nicht verstanden, bis ich kaum mehr als einen Steinwurf vom Boot entfernt war, und ich habe ein sehr gutes Gehör. Das Geräusch, dass das Boot machte, während es sich mit den Flusswellen hob und senkte und dabei gegen die Steine schlug, war lauter als seine Stimme.
Ich kroch wieder aus dem Unterholz und sah Adam an. Meine Nacktheit wäre ziemlich schwer zu erklären gewesen und ich war mir vollkommen bewusst, was das Unterholz mit meiner Haut anstellen würde. Aber Adam brauchte zu lange, um sich zu verwandeln, und dann wäre er ebenfalls nackt – und falls das zurückkam, vor dem dieser Mann solche Angst hatte, wäre Adam, der Werwolf, unsere beste Verteidigung.
Vielleicht hätten andere Leute nicht automatisch angenommen,
dass ein Werwolf nötig war, um das, wovor dieser Mann sich fürchtete, zu bekämpfen. Es gab hier in der Gegend keine Werwölfe, Vampire sind eher städtische Monster und das Feenvolk-Reservat lag noch eine gute Stunde Fahrt hinter den Tri-Cities – dreihundert Kilometer oder sogar mehr entfernt. Aber die schiere Tiefe der Angst, die der Mann empfand, sorgte dafür, dass ich mich nicht für paranoid hielt.
Ich verwandelte mich in einen Menschen. »Hey«, rief ich. »Du da im Boot. Geht es dir gut?«
Die Stimme des Mannes veränderte sich nicht. Er hatte mich gar nicht gehört.
»Ich glaube, ich habe bessere Chancen, ihn zu erreichen, wenn ich über den Fluss rangehe«, erklärte ich Adam. »Dieses Boot schwimmt noch. Wenn er so übel verletzt ist, wie mich der Blutgeruch vermuten lässt, wäre es auf jeden Fall leichter, wenn wir ihn nicht durchs Unterholz ziehen müssen.«
Das nächste freie Uferstück lag vielleicht zehn Meter flussabwärts. Das
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