Siegel der Nacht: Mercy Thompson 6 - Roman (German Edition)
Ich konnte die Andeutungen von Reißzähnen erkennen, die einst in ihrem Maul zu sehen gewesen waren – und als die noch offensichtlicher gewesen waren, hatte sie wahrscheinlich nicht so freundlich ausgesehen.
Die meisten Piktogramme, die ich bis jetzt gesehen hatte, waren rohere, zweidimensionale Strichmännchen. Dieses strahlte Tiefe und echte Kunstfertigkeit aus.
»Es gibt eine Menge Geschichten über Sie-die-wacht«, sagte Calvin. Er öffnete den Mund, dann hielt er inne. »Aber das ist nicht der Grund, warum es wichtig war, hierherzukommen.« Er wirkte überrascht, als hätte er sich mit seinen Worten selbst überrumpelt.
»Warum erzählst du uns die Geschichte nicht trotzdem?« , forderte Adam ihn auf. »Wir haben Zeit.«
Calvin sah unruhig hinter sich, aber da war niemand. »In Ordnung.« Er holte tief Luft. »Okay. Es ist eine Kojote-Geschichte, also ist es wahrscheinlich passend, richtig? Eine von mehreren Versionen, wie sie hierherkam – alle, die ich kenne, sind Kojote-Geschichten.
Eines Tages kam Kojote den Columbia hinauf und entdeckte dieses Indianerdorf. Er wanderte zwischen den Menschen umher, aber er konnte ihren Anführer nicht finden. Also ging er zu einer alten Frau, die gerade eine Fischreuse flocht. ›Wo ist euer Anführer?‹, fragte er sie.
›Tsagaglalal, Sie-die-wacht, ist unsere Anführerin‹, sagte die alte Frau. ›Sie ist oben auf dem Hügel.‹
Also ging Kojote hier hinauf und entdeckte genau dort, wo wir jetzt stehen, eine Frau.
›Was tust du hier oben?‹, fragte er sie. ›Deine Leute sind unten im Dorf.‹
›Ich wache‹, antwortete sie. ›Ich wache, um sicherzustellen, dass meine Leute genug zu essen haben. Ich wache auch, damit sie gute Zelte haben, um darin zu schlafen. Ich wache, um sicherzustellen, dass sie sicher sind vor Feinden.‹
Kojote hielt das für eine gute Idee. Also nahm er sie und warf sie gegen diesen Felsen, damit sie für immer Wache über ihre Leute halten konnte.«
»Ich wette, an der Geschichte ist noch mehr dran«, sagte Adam. »Kojote hätte sie nicht gegen den Felsen geworfen, hätte sie nicht ein paar neunmalkluge Kommentare abgelassen.«
»Na ja«, sagte ich, weil er dabei mich angesehen hatte. »Ich nehme an, wenn ich gerade meinen Job machen würde und irgendein Fremder kommt und stellt mein Verhalten in Frage, würde ich ihm auch ein paar Beleidigungen an den Kopf werfen.« Ich hatte über die Jahre hinweg einiges zu Adam gesagt und ich sah in seinen Augen, dass er sich ebenfalls daran erinnerte.
»Vielleicht«, sagte Calvin. »Lasst mich euch zurück zu den Petroglyphen führen.«
Er ging den Weg zurück, doch ich zögerte. Ich sah mich in der Nische um und atmete tief durch, aber ich konnte die Frau nicht riechen. Ich hatte ihre Witterung an der Wegkreuzung aufgenommen und sie konnte nirgendwo anders hingegangen sein. Selbst wenn sie über den Zaun geklettert wäre, hätte sie ihren Geruch hinterlassen.
»Hat einer von euch die Frau bemerkt, die ein kleines Stück hinter uns den Weg entlangkam?«, fragte ich. »Vielleicht war sie der Bussard, den wir gesehen haben.«
»Welche Frau?«, fragte Calvin.
Adam schüttelte den Kopf. »Wen hast du gesehen?«
»Die Frau aus dem Museum. Sie war auch in der Indianer-Ausstellung«, erklärte ich Adam, weil ich davon ausging, dass er sie ebenfalls bemerkt hatte. Adam bemerkt vieles. Zum Teil liegt es daran, dass er ein Werwolf ist, aber wichtiger ist, glaube ich, seine Zeit in einer Fernaufklärungseinheit in Vietnam.
»Eine Familie«, sagte er. »Vater, Mutter, drei Kinder.«
»Und eine indianische Frau in den mittleren Jahren, die eine leuchtend blaue Bluse trug, auf deren Rücken zwei Aras aufgestickt waren«, erklärte ich ihm. »Sie roch nach Minze und Kaffee.«
Er schüttelte den Kopf. »Ich habe sie nicht gesehen.«
Er war direkt an ihr vorbeigegangen.
»Was bedeutet das?«, fragte Calvin.
»Ich bin mir noch nicht sicher«, antwortete ich. Calvin konnte Lügen nicht riechen. Man konnte an seiner Miene ablesen, dass er mir glaubte. Ich wette, sein Onkel Jim hätte mich zur Rede gestellt. Adam warf mir einen scharfen Blick zu.
Hier ging eine Menge vor sich. Zu viel davon war mysteriös
und ergab überhaupt keinen Sinn. Und es gab zwei andere Walker, von denen zumindest einer alles über mich wusste, noch bevor wir uns begegnet waren. Die verschwindende Frau war einfach ein Mysterium zu viel. Obwohl ich mir ziemlich sicher war, dass sie mein Mysterium war und nichts, was von
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