Siegel der Nacht: Mercy Thompson 6 - Roman (German Edition)
wissen musste, und vielleicht war das hier meine einzige Chance. »Erzähl mir von Joe Old Coyote.« Hier lief irgendetwas Seltsames. Es gab eine Verbindung zwischen meinem Vater und Kojote, und ich verstand sie einfach nicht. Direkte Fragen hatten nicht besonders gut funktioniert; vielleicht konnte ich ihn dazu bringen, ausführlicher zu antworten, wenn ich die Sache anders anging. Und vielleicht konnte ich so mehr über meinen Vater erfahren, als meine Mutter mir hatte erzählen können.
Der Mann, der aussah wie mein Vater, grunzte. »Er war ein Bullenreiter.«
Ich wartete, aber anscheinend war das alles, was er zu sagen hatte. »Das wusste ich schon«, meinte ich schließlich.
»War nicht Blackfeet. Oder auch Blackfoot.«
Das war eine neue Information. »Er hat meiner Mutter gesagt, er wäre es.«
»Nö.« Er schüttelte den Kopf. »Nein. Ich bin mir ziemlich sicher, dass er ihr nur gesagt hat, er wäre aus Browning. Den Rest hat sie daraus abgeleitet.«
»War er aus Browning?«, fragte ich. Mein Herz verkrampfte
sich und ich war mir nicht sicher, weshalb. Wegen meiner Mutter, die so jung gewesen war? Vielleicht.
»Ich war gelangweilt und einsam«, sagte er plötzlich mit listiger Scheu. »Also habe ich vielleicht beschlossen, einfach für eine Weile ein anderer zu sein. Vielleicht. Joe tauchte zum ersten Mal in einer Bar in Browning auf. Er hing eine Weile mit ein paar Kerlen ab, dann meldete er sich bei einem Rodeo an.« Er gab ein verzücktes Geräusch von sich. »Rodeo ist kommerzialisiertes Chaos. Er liebte es auch. Liebte die Gerüche, liebte die Schmerzen nach einem guten Ritt, liebte es, gegen die Bullen zu kämpfen; besonders, weil auch die Bullen mit ihm eine gute Zeit hatten. Sie maßen ihre Kraft mit seiner. Ich hätte sie für Stunden reiten können und sie hätten mich hinterher umbringen können. Aber Joe war anders. Manchmal gewann er; manchmal gewannen sie. Geben und Nehmen. Er hielt sich an die Regeln und dafür liebten sie ihn.«
Kojote hatte entschieden, Joe Old Coyote zu sein? Warum sagte er dann, er wäre es nicht, und sprach von Joe Old Coyote in der dritten Person?
»Also wurde Joe in Browning geboren«, sagte ich langsam.
»Das könnte man sagen«, stimmte Kojote zu. »Joe hat es gewöhnlich getan.«
»Joe war eine Person, zu der du wurdest.« Ich sagte es als wäre ich mir nicht sicher und er nickte.
»Genau.«
»Also warst du Joe Old Coyote, aber Joe war nicht du.«
»Irgendwie.« Kojote schlug mit den Händen auf den Felsen. »Ich bin kein großer Erklärer. Ich habe Joe geschaffen, dann habe ich in ihm gelebt, bis er gestorben ist.
Er war nicht ich und ich war nicht er, aber für eine Weile bewohnten wir dieselbe Haut. So lange Joe auf dieser Erde wandelte, wandelte ich mit ihm – obwohl er das nie wusste. Es gab einfach ein paar Dinge, über die er sich keine großen Gedanken machte – seine Kindheit zum Beispiel. Als er starb, wurde ich als ich selbst wiedergeboren – und er war tot.«
Vielleicht lag es daran, dass Nacht war, vielleicht auch daran, dass ich im Mondlicht neben Kojote saß – aber plötzlich ergab das alles einen Sinn. Wie bei dieser Schaben-Geschichte in Men in Black hatte Kojote einen Joe-Anzug getragen. Aber anders als der menschliche Anzug der Schabe, hatte Kojotes Anzug ein eigenes Leben besessen.
»Joe war real?«
Kojote nickte. »Und auch sein Geist ist es – obwohl auch das irgendwie ich bin.«
Ich entschied mich bewusst dafür, diesen Kommentar nicht zu hinterfragen. Ich hatte gerade das Gefühl, ich hätte es verstanden und der Geist einer realen Person, die nicht wirklich eine Person war, würde mich nur wieder aus der Bahn werfen.
»Wenn er in Browning geboren wurde«, erklärte ich Kojote, »macht ihn das vielleicht zu Blackfeet. Piegan.« Plötzlich verstand ich, woher Joe seinen Namen hatte, und schüttelte den Kopf. »Die Blackfeet erzählen Geschichten vom Alten Mann, oder? Er ist ihr Trickster. Die Crow und die Lakota erzählen in diesem Teil des Landes Kojote-Geschichten. Für die Blackfeet spielt der Alte Mann die Rolle von Kojote. Alter Mann und Kojote. Old Coyote. Joe, weil er einfach nur irgendein Joe war.«
Der Mann neben mir lachte ein leises, angenehmes Lachen. »Vielleicht macht ihn das wirklich zu Blackfeet. Ein bisschen zumindest. Er mochte Browning – sie wissen, wie man Partys schmeißt, diese Indianer in Browning.«
»Und dann hat er meine Mutter getroffen.« Mein Vater war ein Konstrukt, geboren aus
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