Siegel der Nacht: Mercy Thompson 6 - Roman (German Edition)
mehr als dreißig Jahren gestorben war. Ein Mann, der ein Geist gewesen war und im hellen Tageslicht für mich getanzt hatte. Er war gut aussehend und jung und strahlte einen unbekümmerten Charme aus, den ich sogar nach dieser kurzen Zeit schon bemerkt hatte.
»Bist du mein Vater?«, fragte ich.
Er schüttelte den Kopf und der Grashalm in seinem Mund schien die Bewegung noch zu betonen. »Nö. Tut mir leid und so. Aber dein Vater war Joe Old Coyote.« Er sprach es in zwei Silben statt drei. Kai-out, nicht Kai-ou-ti. »Er ist bei einem Autounfall und durch Ärger mit ein paar Vampiren gestorben. Sie mögen Walker nicht besonders, und ihn mochten sie noch weniger als andere.«
Ich hatte gedacht, ich wüsste, warum niemand außer mir heute Abend den Geist gesehen hatte. Wenn man Geister
im Tageslicht sehen kann, kann man herausfinden, wo Vampire schlafen, egal, welche Magie sie zu ihrem Schutz einsetzen. Ich hatte das immer meinem Walker-Sein zugeschoben, aber wenn die anderen Walker den Geist nicht gesehen hatten, war vielleicht etwas an der Sache dran, auf die Gordon Seeker so eindringlich hingewiesen hatte.
»Oh, dass«, sagte er, als hätte ich laut gesprochen. »Nur weil du etwas sehen kannst, heißt das noch nicht, dass du es sehen musst. Ich hätte gedacht, jeder, der mit Werwölfen abhängt, müsste das wissen. Ich meine, wer außer einem Idioten würde einen Werwolf ansehen und denken ›Hund‹? Aber trotzdem tun sie es.«
»Das ist Rudelmagie«, erklärte ich ihm.
Er nickte. »Ein Teil davon. Sicher. Aber trotzdem. Walker sehen Geister, aber diese beiden haben sich schon vor langer Zeit, ›in einer weit, weit entfernten Galaxie‹ beigebracht, sie nicht zu sehen. Ein Mann, der Tote sieht, kann nicht in den Krieg ziehen und trotzdem bei Verstand bleiben. Also haben sie eine Wahl getroffen.«
»Du hast Star Wars gesehen?«, fragte ich.
»Joe hat es getan«, antwortete er, als ergäbe das Sinn. »Hat die Filme geliebt. Eine Cowboy-und-Indianer-Geschichte, wo die Indianer die Guten sind und alle mit Schwertern kämpfen.«
»Cowboy und Indianer?«, fragte ich, während ich über den ersten Teil des Satzes nachdachte.
Er grunzte. »Denk mal drüber nach. Gut gegen Böse. Der Feind ist besser bewaffnet und schien unmöglich zu besiegen – die einfallenden Europäer. Die Guten sind in der Unterzahl und haben nur ein paar mutige Helden mit einer unheimlichen Verbindung zur Macht. Indianer.«
So hatte ich das noch nie gesehen, aber mir war durchaus klar, dass es möglich war. Natürlich gab es auch Leute, die behaupteten, in Puff the Magic Dragon ginge es um Drogen. Für mich war Star Wars eine Space Opera und Puff ein Lied über das Erwachsenwerden und den Verlust von Kindheitsträumen.
»Was ist mit den Ewoks?«, fragte ich. »Sollten sie nicht die Indianer sein?«
Er grinste mich an und seine scharfen Zähne blitzten im Mondlicht. »Nö. Indianer sind nicht süß und pelzig. Die Ewoks waren nur eine gute Marketingmasche.«
Ich atmete die Nachtluft ein und roch ihn. Den Geist, der für mich getanzt hatte, um sich dann in einen Kojoten zu verwandeln.
»Warum hast du getanzt? Ich dachte, du wärst ein Geist.«
»Das war ein Geist«, sagte er. »Das war Joe. Er hat sich Sorgen gemacht, weil du einen gefährlichen Weg beschreitest.« Er warf mir einen belustigten Blick zu. »Nicht, dass du nicht schon ein paarmal in Gefahr gewesen wärst, seitdem du geboren wurdest. Aber diesmal ist es anders, weil ich aus einem bestimmten Grund hier bin. Situationen, in denen ich mitmische, sind gewöhnlich ziemlich chaotisch – und Chaos kann für unbeteiligte Beobachter tödlich sein.«
»Kein unbeteiligter Beobachter«, erklärte ich ihm und zeigte auf mich selbst.
»Aber er ist dein Vater. Er hat das Recht, sich Sorgen zu machen.«
»Was hat der Tanz bedeutet?«, fragte ich.
»Kein Zauber«, sagte er. »Manchmal ist ein Tanz ein
Zauber – wie der Regen tanz oder der Geistertanz. Es war ein Feiertanz. Ein Indianer würde ihn beschreiben als: ›Sieh, Apistotoki, hier ist meine Tochter. Sieh sie. Sieh ihre Grazie und ihre Schönheit. Schütze dieses mein Kind.‹« Er schenkte mir einen hinterhältigen Blick. »Oder man könnte den Tanz auch so beschreiben: ›Sieh, Gott, was ich gemacht habe. Ziemlich cool, oder? Könntest du drauf aufpassen?‹«
Für mich. Er hatte für mich getanzt.
»Erzähl mir …«, setzte ich an und schluckte die Gefühle hinunter, die in mir tobten. Es gab so viel, was ich
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