Siegel der Nacht: Mercy Thompson 6 - Roman (German Edition)

entsetzlich, wenn dein Kopf höher läge als seiner. Gewöhnlich erscheint er in Menschenform, oder zumindest in menschenähnlicher Form, aber er liebt auch seine Wolfshaut sehr. Würde es dir viel ausmachen, dich direkt vor den Altar zu setzen, zwischen den Stein und das Feuer?«
    Adam knurrte die Bussarde lautlos an – eine klare Warnung  – und glitt wieder vom Altar, um sich an die Stelle zu setzen, die Kojote beschrieben hatte.
    Gordon hatte die Augenbrauen fast bis zu seinem weißen Haaransatz hochgezogen. »Ein höflicher Kojote?«
    Kojote knurrte etwas in einer fremden Sprache.
    »Ich dachte, du wärst nicht ihr Vater«, sagte Gordon freundlich. »Dann ist er auch nicht dein Sohn durch Eheschließung.«
    »Dann lass uns sagen«, meinte Kojote, »dass ich ihn respektiere und nicht vorhabe, mich heute Nacht in einen Konkurrenzkampf verwickeln zu lassen, solange es nicht unbedingt nötig ist. Und jetzt lasst es uns hinter uns bringen.«
    Er verwandelte sich. Ich hatte das Gefühl, seine Veränderung vollzog sich noch schneller als meine, aber ich war
mir nicht sicher. Von einem Augenblick auf den nächsten saß ein riesiger Kojote von der Größe eines Bernhardiners vor uns. Er trottete zu dem Monolithen, der an einem Ende des Hufeisens stand, und sprang hinauf.
    Gordon sah mürrisch drein, dann verwandelte er sich in einen der größten Adler, die ich je in meinem Leben gesehen habe – und ich habe schon riesige Steinadler gesehen. Als Vogel war er größer als der Mann, der er gewesen war. Ich konnte die Farbe seines Gefieders nicht erkennen, aber es sah aus, als wäre es um einiges dunkler als das der Bussarde. Dann breitete er die Flügel aus und mir wurde klar, dass Gordon gar kein Adler war. Kein Adler hatte jemals eine solche Flügelspanne.
    »Donnervogel«, sagte Calvin ehrfürchtig. »Großvater hat gesagt, dass du Donnervogel bist, aber zu dieser Zeit nannte er mich schon öfter beim Namen meines Vaters als bei meinem.«
    Donnervogel.
    Der Vogel lehnte sich vor und rieb seinen unglaublich scharf aussehenden Schnabel an der Seite von Calvins Kopf. Da Calvins Kopf auf den Schultern blieb, musste ich davon ausgehen, dass es eine Geste der Zuneigung war. Mit einer Bewegung zwischen Hüpfen und Fliegen landete er auf dem Monolithen gegenüber von Kojote. Mit ihm darauf wirkte der Menhir um einiges kleiner. Gordon, der Donnervogel war, schob die Kerze mit dem Schnabel zur Seite, bis sie so stand, wie er es haben wollte. Das Kerzenlicht verlieh seinem Gefieder eine warme, schokoladenbraune Färbung. Er lehnte sich kurz vor und zurück, streckte einmal seine Flügel, dann saß er still.
    Calvin holte einen zusammengerollten Teppich, eine
kleine Trommel und eine mit Perlen bestickte Rohhauttasche hervor. Rohhaut – ungegerbtes Leder – wurde meines Wissens nach eigentlich eher von den Indianern der Ebene benutzt als von den Plateau-Indianern wie den Yakama. Aber wahrscheinlich konnte ein Medizinmann jedes Hilfsmittel verwenden, das er wollte.
    Calvin stellte die Tasche auf einer Seite des vorbereiteten, aber noch nicht entzündeten Feuers ab. Dann rollte er mit großer Förmlichkeit den Teppich aus und richtete ihn am Altarstein aus. Schließlich nahm er die Trommel und setzte sich neben Adam.
    Jim stellte sich vor den Teppich und schloss die Augen. Es wirkte wie ein Gebet, aber was auch immer er tat, es sorgte dafür, dass die Magie ihn bemerkte – ich konnte es selbst durch den Zement fühlen, auf dem ich saß.
    Er trat auf den Teppich und hielt eine Hand über das aufgestapelte Holz. »Holz«, sagte er, »das die Flamme der Feuerwesen geschluckt hat, es ist Zeit zu brennen.«
    Als der kleine Holzstapel in Flammen aufging, zuckte Adam leicht zusammen, aber Calvin oder Jim schien es nicht zu überraschen.
    Jim nickte Calvin kurz zu und der begann, die Trommel zu schlagen. Zuerst war es ein einfacher, einhändiger Schlag. Es war kein gleichmäßiges Geräusch, sondern eher zögerlich und unregelmäßig … bis er den Rhythmus der Magie aufnahm, die unter uns floss. Für eine Weile blieb es dabei, dann wurde er schneller und akzentuierte den einfachen Rhythmus mit Zwischenschlägen. Als die Magie seinen Ergänzungen folgte, wechselte er zu einem treibenden Takt voller Synkopen. Und die Magie folgte seiner Führung.
    Genau diesen Moment wählte der Wind, um aufzufrischen und mir den Rauch des Feuers in die Augen zu blasen. Ich blinzelte, aber im Rauch musste auch Asche gewesen sein. Ich legte meine