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Siegfried

Siegfried

Titel: Siegfried Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Harry Mulisch
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Situation, in der er zuhören konnte, war, wenn jemand sich nicht an die Allgemeinheit richtete, sondern ihn persönlich ansprach.
    Nach dem Applaus nahm Marte an seiner Seite Platz und fragte, um den Anfang zu machen, warum er in der Passage, die er vorgelesen hatte, den Traum im Präsens geschrieben habe, während der übrige Roman in der Vergangenheitsform geschrieben sei. Das war natürlich eine gute Frage, und seine Achtung vor dem jungen Mann mit dem Ring im Ohr stieg. Er antwortete, er habe das immer bei Träumen gemacht, solange er sich erinnern könne, denn Träume seien wie Mythen von ihrem Wesen her nicht historisch. Man sage auch nicht »Tristan liebte Isolde«, sondern »Tristan liebt Isolde«.
    »Übrigens«, sagte er und fuhr mit beiden Händen durch sein Haar, »ich kann das nicht mit letzter Sicherheit sagen, es gibt andere, die das besser wissen als ich, doch ich halte es nicht für ausgeschlossen, daß ich noch nie einen Roman geschrieben habe, in dem nicht geträumt wird. Ein Roman oder eine Erzählung ist nichts anderes als ein bewußt konstruierter Traum. Ein Roman ohne Traum steht sowohl im Widerspruch zum Menschen, der eben nicht nur wacht, sondern auch schläft, als auch zum Wesen des Romans.« Die Fragen aus dem Publikum, von Marte stets wiederholt, hatte er fast ausnahmslos schon früher in inzwischen unzähligen Städten Europas und Amerikas beantwortet. Wenn ihm ausnahmsweise einmal keine gute Antwort einfiel, antwortete er auf eine Frage, die nicht gestellt worden war, und damit war der Fragesteller auch stets zufrieden. »Thomas Mann«, sagte er, als ein distinguierter Herr aufstand und ihn fragte, wen er als seinen literarischen Vater betrachte. »Und Ihre literarischen Großväter?«
    »Goethe und Dostojewski«, antwortete er sofort, während er darüber nachdachte, wer seine literarischen Urgroßväter waren, nach denen jetzt zweifellos gefragt werden würde. »Und wer ist Ihr literarischer Sohn?« Er mußte lachen.
    »Jetzt haben Sie mich erwischt. Das weiß ich nicht.«
    Der Direktor benutzte den heiteren Moment, um ihm zu danken, und Herter begab sich mit Maria zu dem Tisch mit seinen übersetzten Büchern. »War's gut?« »War es jemals schlecht?«
    »Du mußt nicht hierbleiben«, sagte er, als er sich hinsetzte und seinen Füller aufschraubte, »leiste ruhig Frau Schimmelpenninck ein wenig Gesellschaft.« Eine ganze Reihe von Menschen wartete bereits, und er beobachtete, wie die Leute auch neugierig Maria betrachteten, vor allem die Frauen: Warum sie? Was war sie für eine Frau? War sie nicht dreißig Jahre jünger? Auf welche Weisen kannte sie ihn? Wie war er im Bett? Nun hatte er endlich Gelegenheit, jedem gerade in die Augen zu sehen, auch wenn manche seinem Blick auswichen. Bei jedem Blick hatte er den vorigen vergessen, doch er wußte, an seinen würden sie sich erinnern. Fast jeder, der ihm ein Buch reichte, hatte die erste Seite aufgeschlagen, den sogenannten Schmutztitel, auf den ihr eigener Name gehörte; er blätterte einmal um und signierte auf der eigentlichen Titelseite. Wenn ihn jemand bat, den Namen dessen hineinzuschreiben, für den das Buch gedacht war, tat er das – doch es gab auch Leute, die ihm einen Zettel hinlegten, auf dem zum Beispiel stand »Für Ilse, die ich immer lieben werde«. Dann kostete es ihn etwas Mühe zu erklären, daß er Ilse bestimmt lieben würde, sollte er sie kennen, doch dies sei leider nicht der Fall. Manchmal brachte ihm das einen bösen Blick ein. Außerdem gab es natürlich noch diejenigen, die eine Tasche auf den Tisch stellten und zehn Bücher herausholten: Ob er die bitte signieren könne, mit Widmung, Ort und Datum. Er deutete dann auf die lange Reihe der Wartenden und sagte, das könne er den anderen nicht antun. Nach einer halben Stunde kam der unausweichliche Moment, in dem seine Hand nicht mehr wußte, wie sie seinen Namen schreiben mußte, und er wie ein schlechter Fälscher nur noch eine zittrige Karikatur seiner Unterschrift zu Papier brachte.
    Nachdem Maria ihm das zweite Glas Weißwein
    hingestellt hatte, kam das Ende langsam in Sicht. Doch als er seinen Füller zugeschraubt hatte und aufstehen wollte, traten zwei kleine, alte Menschen näher, die er bereits früher bemerkt hatte. Offensichtlich hatten sie gewartet, bis alle anderen weg waren. Der Mann machte eine untertänige Verbeugung und fragte in gebrochenem Niederländisch mit starkem deutschen Akzent: »Könnten wir Sie kurz einmal sprechen, Herr

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