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Siegfried

Siegfried

Titel: Siegfried Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Harry Mulisch
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Erfahrungen das waren, mußte natürlich geheim bleiben, denn wenn er die jetzt preisgab, hatte er das Buch umsonst geschrieben. Für ihn gab es immer diese zwei Welten, beide gleich wirklich: die Welt seiner individuellen Erfahrungen und die Welt der mythischen Geschichten. Beide mußten auf organische Weise chemisch miteinander reagieren und eine neue Verbindung eingehen – erst dann entstand die Art von Büchern, die er schreiben wollte. Sein Arbeitszimmer war für ihn das Niemandsland zwischen diesen beiden Welten. Als er bemerkte, daß einige Zuhörer Notizen machten, hätte er sie beinah gebeten, das nicht zu tun, denn wenn sie vergäßen, was er gesagt hatte, dann sei es auch der Mühe nicht wert gewesen. Doch dies hätte den Eindruck erwecken können, er wolle sich einen Scherz auf Kosten dieser guten Seelen erlauben. Die Lacher hatte er kurze Zeit später trotzdem auf seiner Seite, als er Die Erfindung der Liebe aufschlug und sagte, er werde jetzt ein Kapitel vorlesen, doch er habe kein einziges Wort selbst geschrieben, denn es handele sich um eine Übersetzung.
    Der Roman beschäftigte ihn bereits seit einigen Jahren nicht mehr, er war aus seinem System verschwunden, wie eine überwundene Krankheit; seitdem hatte er einige andere Bücher publiziert, doch immer noch stieß er alle paar Minuten auf ein Wort oder eine Wendung, die nicht exakt das wiedergab, was im Niederländischen stand. Sein Gedächtnis für die Ereignisse in seinem Leben war eher schlecht, und des öfteren mußte er Maria oder Olga fragen, wie sich irgendwelche Dinge genau zugetragen hatten – doch wenn irgendwo eine Passage zitiert wurde, die er vor fünfzig Jahren geschrieben hatte, und es stand irgendwo ein Punkt statt eines Semikolons, dann bemerkte er das sofort. Ausgeschlossen, daß er an dieser Stelle einen Punkt gemacht hätte! Oder kein Ausrufezeichen. Bei Kontrollen stellte sich heraus, daß er in dieser Hinsicht nie irrte. Sollten alle Exemplare seiner Bücher durch eine fürchterliche Naturkatastrophe vom Erdboden verschwinden, er könnte sie alle innerhalb einer begrenzten Zeit wortwörtlich von A bis Z rekonstruieren. Stünde unbegrenzt Zeit zur Verfügung, könnte natürlich jeder sie schreiben, ebenso wie alle anderen Bücher auch, selbst die nie geschriebenen.
    Um auch visuell in Kontakt mit dem Publikum zu bleiben, sah er hin und wieder von seinem Text auf. Dazu mußte er sich zwingen, und jedesmal war es ein kleiner Schock, wenn er feststellte, daß er der Brennpunkt all der Augen in all den aufmerksamen Gesichtern war. Alle hingen an seinen Lippen, sie gingen vollständig in der Szene auf, die er vorlas – jeder von ihnen beherrschte eine Kunst, die er selbst nicht beherrschte: die des Zuhörens. Schon in der Schule, vor langer Zeit, während des Kriegs, drangen die Worte der Lehrer nicht bis zu ihm, weil er völlig davon in Anspruch genommen war, sie zu beobachten, ihre Mimik, die Haut der Hände, ihre Frisur, wie sie ihre Krawatte gebunden hatten, und außerdem all das, was sonst noch so in der Klasse passierte: das Verhalten der anderen Schüler, die Fliege auf dem Oberlicht, das Schaukeln der Blätter am Baum, die vorbeiziehenden Wolken … »Aufpassen, Rudi!« – doch er paßte nicht zuwenig auf, er paßte zuviel auf. Die Folge war, daß er zu Hause all das noch einmal lernen mußte, was seine Mitschüler bereits nach dem Unterricht wußten. Das bereitete ihm an und für sich keine Schwierigkeiten, Wortblindheit war das letzte, woran er litt; das Problem war nur, daß er zu Hause lieber Bücher las, die ihn wirklich interessierten. Das wiederum führte zu wochenlangem Schwänzen, und schließlich wurde er von der Schule geworfen, was völ lig in Ordnung war, denn Schule war sowieso nur Zeitverschwendung. »Worttaubheit« pflegte er seine Anomalie zu nennen. Dieses Syndrom, das natürlich identisch mit seinem Talent war, war auch der Grund für seine lebenslängliche Unfähigkeit, einem Vortrag zu folgen, einem Theaterstück oder auch nur einem simplen Thriller im Fernsehen. Wenn der Polizeiwagen heulend über die hügeligen Straßen von San Francisco raste, dann war seine Aufmerksamkeit nicht bei der spannenden Geschichte, die er nie verstand, sondern bei einer Frau, die zufällig auf dem Bürgersteig ging und sich nicht der Tatsache bewußt war, daß sie eines Tages auf der anderen Seite des Ozeans in einer atemberaubenden Szene zu sehen sein würde. Wer war sie? Wohin ging sie? Lebte sie noch? Die einzige

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