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Siegfried

Siegfried

Titel: Siegfried Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Harry Mulisch
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Herter?«

7
    »Natürlich«, sagte Herter, auch auf niederländisch. Er hatte allmählich keine Lust mehr, doch er wollte die beiden nicht enttäuschen. »Und reden Sie ruhig deutsch«, fügte er auf deutsch noch hinzu. »Vielen Dank, Herr Herter.« Ein wenig hilflos sahen sie sich um.
    »Darf ich Ihnen einen Stuhl anbieten?«
    Er warf dem Buchhändler, der mit seinen Mitarbeitern bereits am Einpacken war, einen Blick zu, und der verstand gleich, was er meinte. Die beiden waren eher neunzig als achtzig Jahre alt und sahen ärmlich, aber gepflegt aus; ihre Mäntel hatten sie nicht an der Garderobe abgegeben. Sämtliche Kleidungsstücke, die der alte Herr anhatte, waren beige, sein Hemd, seine Krawatte, sein Anzug, dazu trug er hellgraue Schuhe – offensichtlich hatte ihm jemand weisgemacht, in seinem Alter stehe ihm das gut. Der zu weite Kragen zeigte, daß er seit dem Kauf des Hemds um ein paar Größen geschrumpft war. Er war kahl und gleichzeitig nicht kahl; wie ein unsichtbarer Dunst lag das weiße Haar auf seinem bleichen Schädel, der hier und da rosafarbene Flecken hatte. So mager er war, so dick war sie: Es schien, als habe sie ihn fast vollständig in sich aufgenommen. Ihr Gesicht, umrahmt von kleinen, grauen Locken, war breit und sah ein wenig slawisch aus, was durch die goldfarbene Brille mit zu großen Gläsern betont wurde. Ihre Wangen zeigten noch eine Rötung, die natürlich wirkte.
    Nachdem sie Platz genommen hatten, stellten sie sich als Ullrich und Julia Falk vor. Ihre Hand war warm, seine kühl wie trockenes Papier.
    »Dies ist ein schwieriger Moment für uns, Herr Herter«, sagte Falk. »Wir haben uns lange darüber unterhalten, ob wir es wirklich tun sollen. Wir waren auch noch nie bei einer Lesung …« Er wußte nicht, wie er anfangen sollte, und um ihm sein Unbehagen zu nehmen, sagte Herter: »Ich freue mich jedenfalls, daß Sie gekommen sind.«
    Falk sah kurz seine Frau an, die ihm zunickte.
    »Wir haben Sie gestern im Fernsehen gesehen, Herr Herter. Ganz zufällig, denn solche Sendungen schauen wir uns eigentlich nie an. Die sind nicht für Menschen wie uns gedacht. Doch dann sagten Sie plötzlich etwas über Hitler. Es war sehr schnell zu Ende, und wir wissen nicht, ob wir Sie richtig verstanden haben.« »Bestimmt.«
    »Sie sagten, daß Hitler immer unerklärlicher wird. Und dann sagten Sie etwas über die Phantasie. Daß Sie ihn mit Hilfe der Phantasie fangen wntollen.«
    »In einem Netz«, nickte Julia.
    »Genauso war es.«
    Falk sah Herter an. In seinen blauen Augen war plötzliches etwas Scharfes. »Vielleicht können wir Ihnen helfen.«
    Verblüfft erwiderte Herter seinen Blick. Er wußte nicht gleich, was er sagen sollte.
    »Bei der Phantasie?«
    »Nein, da brauchen Sie keine Hilfe. Mit etwas Wirklichem. Um zu sehen, wer er war.« Plötzlich hatte sich die Situation umgekehrt. Plötzlich saß er nicht mehr als berühmter Schriftsteller in einem Prunksaal einem einfachen, unsicheren Ehepaar gegenüber, sondern er war auf einmal der Unsichere.
    »Sie machen mich jetzt aber äußerst neugierig, Herr Falk.« Er sah sich um. Männer waren dabei, die Stühle aus dem leeren Saal zu räumen, die übriggebliebenen Bücher standen in Kartons auf dem Tisch, und etwas weiter entfernt warteten Maria, Lichtwitz und die Schimmelpennincks auf ihn. »Ich bin hier zu Gast, ich habe jetzt Verpflichtungen. Können wir uns morgen irgendwo treffen?«
    »Wo wohnen Sie?« fragte Falk zögernd. »Wir könnten natürlich zu Ihnen ins Hotel kommen.« »Ich bitte Sie, Sie haben sich bereits genug Mühe gemacht. Ich komme zu Ihnen.«
    Zweifelnd sah Falk kurz seine Frau an; als sie nickte und gleichzeitig kurz mit den Achseln zuckte, stimmte er zu. Sie wohnten in einem Altersheim, Eben Haëzer. Herter notierte die Adresse und die Nummer ihres Apartments, stand auf und gab beiden die Hand. Morgen vormittag um halb elf würde er zum Kaffee kommen. »Was wollten die beiden Alten von dir?« fragte Maria, als er sich zu ihnen gesellte.
    »Die wissen etwas«, sagte Herter, nachdem er von ihrem Gespräch berichtet hatte. »Die wissen etwas, was sonst niemand weiß.«
    Der Vin d'Honneur wurde in einem benachbarten Saal veranstaltet. Dreißig oder vierzig Gäste aus den literarischen Kreisen Wiens waren da, die nicht den Eindruck machten, als hätten sie ihn vermißt. Am liebsten hätte er sich irgendwo in eine Ecke gesetzt, ein Glas Wein getrunken und eine Kleinigkeit gegessen, doch es ließ sich nicht vermeiden, daß

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