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Siegfried

Siegfried

Titel: Siegfried Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Harry Mulisch
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er den Autoren, Dichtern, Kritikern, Verlegern, Lektoren und anderen Mitgliedern des Literaturbetriebs vorgestellt wurde. Eigentlich wollte er niemanden mehr kennenlernen, er fand, daß er langsam genug Leute kannte; außerdem hatte er ihre Namen und ihre Funktionen schon wieder vergessen, während sie ihm genannt wurden, denn sie anzusehen und einzuschätzen nahm ihn bereits allzusehr in Anspruch. Es war wiederholt vorgekommen, daß er sich ein und demselben drei- oder viermal vorgestellt hatte, woraus dieser natürlich den Schluß zog, daß er inzwischen vollkommen senil geworden war – doch es war noch schlimmer: Letztlich interessierte es ihn nicht, wer oder was sein Gegenüber war. Nicht nur in der Erfindung der Liebe , sondern auch in anderen Romanen hatte er Gestalten auftreten lassen, die viele Menschen berührten, doch für ihn waren andere Menschen – abgesehen von den zwanzig oder dreißig, die ihm nahestanden – nur insofern wichtig, als er sie in seine Phantasiewelt einfügen konnte. Doch vielleicht war diese recht unmenschliche, fast autistische Eigenschaft ja gerade die Voraussetzung dafür, daß er solche Gestalten erschaffen konnte. Vielleicht lag jeder Kunst eine gewisse Erbarmungslosigkeit zugrunde, die gutherzigen Kunstliebhabern besser verborgen blieb. »Du bist nicht wirklich bei der Sache«, sagte Maria, als man ihn endlich einmal für einen Moment in Ruhe ließ.
    »Stimmt. Eigentlich möchte ich am liebsten von hier verschwinden.«
    »Aber das geht leider nicht. Das hier wurde von einigen netten Menschen dir zu Ehren organi
    siert. Du wirst dich also noch eine Weile aufopfern müssen.«
    Er nickte.
    »Nur gut, daß ich einen so folgsamen Charakter habe und mich selbst immer verleugne.« Eine kleine, mollige Dame kam auf ihn zu, ergriff mit beiden Händen die seinen und schüttelte sie kräftig, während sie ihn mit glänzenden Augen anstarrte.
    »Vielen Dank für Ihr wunderbares Buch, Herr Herter. Die Erfindung der Liebe ist der schönste Roman, den ich je gelesen habe. Die Lektüre der letzten Seiten habe ich eine Weile von einen Tag auf den anderen verschoben, weil ich nicht wollte, daß das Buch zu Ende ist, meinetwegen hätte es noch einmal tausend Seiten haben dürfen. Ich habe gleich wieder von vorne angefangen. Darum habe ich mich so gefreut, als Sie in Ihrer Einleitung sagten, für den Anfang brauche man das Ende.« Sie wartete seine Antwort nicht ab, sondern drehte sich errötend um, und es schien, als ergreife sie die Flucht.
    »Schrecklich, was ich den Menschen antue«, sagte Herter.
    Eine halbe Stunde später bot der Direktor des Hotels Sacher ihm an, sie zu jeder gewünschten Zeit ins Hotel zu bringen. Für Herter war dies das Signal, daß er jetzt gehen konnte, ohne unhöflich zu sein; er bedankte sich für das Angebot, wollte aber lieber zu Fuß gehen und kurz ein wenig frische Luft schnappen.
    »Sind Sie sicher? Der Wetterbericht meldet Gewitter.«
    »Ich bin mir sicher.«
    Bis er sich verabschiedet hatte, dauerte es eine
    weitere halbe Stunde. Lichtwitz begleitete sie zum Ausgang und legte ihm ans Herz, sich auf jeden Fall zu melden, wenn er wieder einmal in Wien sei.
    Auf dem Platz überfielen sie ein paar merkwürdige Böen, die aus allen Richtungen zu kommen schienen. Der Himmel war schwarz wie die Rückseite eines Spiegels, hin und wieder spürte Herter einen verirrten Regentropfen im Gesicht. Während er sich bei Maria dafür entschuldigte, daß er sie – durch Hitlers Schuld – am nächsten Morgen wieder allein lassen mußte, wurde der Wind allmählich stärker – und plötzlich kam genau aus der Augustinerstraße ein so kräftiger Stoß, daß sie sich kaum auf den Beinen halten konnten. Im selben Moment war von überall her Rauschen und Klappern zu hören. Fensterläden, die aufgeweht wurden und gegen die Hauswand schlugen, Klirren von zersplitterndem Glas, umstürzende Blumenkübel und Fahrräder, gefolgt von einer haushohen Wolke aus Staub und Sand, die ihnen die Sicht nahm. Sich die Augen reibend, mit dem Rücken gegen den Wind, blieben sie stehen. Es blitzte, gleich darauf erschütterte ohrenbetäubender Donner die Stadt, und kurze Zeit später gab es einen derart heftigen Wolkenbruch, daß es ihnen vorkam, als stünden sie angezogen unter der Dusche.
    »Nicht drauf achten!« rief Herter, während er sich schräg nach vorn gegen den Wind stemmte und weiterging. »Tu einfach so, als bemerktest du es nicht! Zeig, wer hier der Herr ist!«

8
    Noch beim

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