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Siegfried

Siegfried

Titel: Siegfried Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Harry Mulisch
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Schlafzimmer, dessen Tür halb offenstand: Der Raum war kaum größer als das Bett. Im Wohnzimmer gab es gerade genug Platz für eine Couch, einen Sessel und ein paar Schränkchen mit allerhand Nippes. In der Ecke stand ein archaisches Fernsehgerät, worin sie ihn vorgestern gesehen hatten; darauf das eingerahmte Foto eines blonden, vier- oder fünfjährigen Jungen, neben dem eine lachende, junge Frau zu sehen war, seine Mutter offenbar. Vielleicht handelte es sich um ihren Enkel oder Urenkel. Herter nahm auf der grünlichen Couch Platz, deren verschlissene Armlehnen mit Tüchern abgedeckt waren, die selbst auch in den Müll gehörten. Über der Couch hing eine gerahmte Reproduktion von Brueghels Bauernhochzeit.
    »Ehrlich gesagt, Herr Herter«, sagte Falk, Die Erfindung der Liebe auf dem Schoß, »wir hatten nicht damit gerechnet, daß Sie kommen würden. Sie, ein so berühmter Schriftsteller …«
    »Ach was«, unterbrach ihn Herter. »Diesen berühmten Schriftsteller kenne ich gar nicht.« Mit einer Entschuldigung, daß sie keine Vase hatten, stellte Julia die Blumen in einem kleinen roten Plastikeimer auf den niedrigen Tisch. Nachdem sie den dünnen Kaffee eingeschenkt und Streuselkuchen hingestellt hatte, nahm sie neben Herter auf der Couch Platz und zündete sich eine Zigarette an; das ausgepustete Streichholz schob sie zurück in die Schachtel. Herter sah, daß die beiden sich nicht ganz wohl in ihrer Haut fühlten. Er beschloß, seine Ungeduld zu unterdrükken, und fragte, ob sie immer in Wien gelebt hätten. Sie sahen einander an. »Fast immer«, sagte Falk.
    Herter spürte, daß er auf diesen Punkt besser nicht weiter einging.
    »Wie alt sind Sie beide, wenn ich fragen darf?«
    »Ich bin neunzehnzehn geboren, meine Frau vierzehn.«
    »Sie haben also praktisch das ganze Jahrhundert erlebt.«
    »Ein besonders schönes Jahrhundert war es nicht.«
    »Aber ein interessantes Jahrhundert, jedenfalls für den, der darüber erzählen kann. Sagen wir, es war ein unvergeßliches Jahrhundert.«
    Auf Herters Frage nach seiner Herkunft berichtete Falk, sein Vater sei Konditorgehilfe bei Demel am Kohlmarkt gewesen. Er habe ihn kaum gekannt, sein Vater sei im Ersten Weltkrieg an der Somme gefallen, und seine Mutter habe danach ihren Lebensunterhalt als Hausangestellte bei reichen Familien auf der Ringstraße verdient. Nur die Volksschule habe er absolviert, und anschließend sei er Postbote geworden. Während seiner Dienstzeit habe er einen Kurs an der Hotelfachschule besucht, denn er habe es weiterbringen wollen als sein Vater. Als er mit Zwanzig seinen Abschluß machte, war seine Mutter bereits gestorben.
    »Und dann wurden Sie also Oberkellner.«
    »Das auch.«
    »Und was sonst noch?«
    Falk sah ihn aus den Augenwinkeln an.
    »Nazi.«
    Herter lachte laut auf, so daß ein paar Krümel vom Streuselkuchen aus seinem Mund flogen. »Das muß eine merkwürdige Schule gewesen sein.«
    Der Grund dafür war nicht die Schule. Falk hatte einige Male die Arbeitsstelle gewechselt, und
    1933 – das Jahr, in dem Hitler in Deutschland an die Macht kam – fand er Arbeit in einer Kneipe, wo Rechtsradikale der soeben verbotenen Nazipartei sich trafen, so wie das, unter Leitung der NSDAP-Zentrale in München, in unzähligen Orten Österreichs geschah. Als Skatklub getarnt, schmiedeten sie in einem Hinterzimmer voller Zigarrenrauch ihre revolutionären Pläne, die Karten vor ihnen auf dem Tisch. Sogar Dr. Arthur Seyß-Inquart war einmal mit von der Partie, ein Anwalt, der es bis zum Bundeskanzler bringen und Hitler offiziell um den Anschluß Österreichs bitten sollte.
    »Und der zwei Jahre später zur Belohnung Reichskommissar in den besetzten Niederlanden wurde«, ergänzte Herter, »aber damals war er vermutlich aus Ihrem Blickfeld verschwunden. Für das, was er bei uns angestellt hat, vor allem mit den Juden, hat man ihn in Nürnberg aufgeknüpft.« »Ich weiß«, sagte Falk. »Während der letzten sechs Kriegsmonate haben wir in seinem Haushalt gearbeitet, in Den Haag.«
    Überrascht sah Herter ihn an, doch er unterdrückte sein Verlangen weiterzufragen.
    »Nun, dann kennen Sie die Herren ja alle. Rauter zum Beispiel, den obersten Chef von SS und Polizei in den Niederlanden, auch ein Landsmann von Ihnen. Genaugenommen waren wir eigent lich von Österreich besetzt. Lauter Wiener Blut , wenn ich so sagen darf. Manchmal denke ich ja, daß der sogenannte Anschluß von Österreich an Deutschland vielmehr ein Anschluß von Deutschland an

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