Siegfried
Österreich hineinragt wie ein …«
»… wie ein Penis«, wollte Herter ergänzen, doch er sagte: »Es war offensichtlich so etwas wie sein absoluter Ort. Mit der romantischen Wildheit identifizierte er sich mehr als mit dem modernen Verkehrsgewühl in München oder Berlin. Vielleicht hat jeder Mensch einen solchen absoluten Ort. Wo wäre der Ihre, Frau Falk?« Als sie nicht gleich verstand, was er meinte, sagte Falk:
»Wir haben nicht besonders viel von der Welt gesehen, Herr Herter. Wir sind ganz einfache Menschen. Und wo wäre Ihrer?«
Herter sah kurz hinauf zu einem braunen, igelförmigen Feuchtigkeitsfleck an der Decke. »Vielleicht das Stückchen Wüste in Ägypten, wo die Pyramiden und die Sphinx stehen.«
Der Adjutant Krause, jetzt in einer strammen, schwarzen SS-Uniform, holte sie mit dem Auto vom Bahnhof ab und brachte sie, an einer Reihe von Absperrungen und Wachtposten vorbei, zum Obersalzberg. Die eigentliche Villa, von Hitler selbst entworfen, bekamen sie noch nicht zu Gesicht; dahinter, von der Straße aus unsichtbar, lag ein riesiger Komplex aus Kasernen, Bunkern, Schießplätzen, Kanzleien, Garagen, einem Hotel für hohe Gäste, Baracken für die Arbeiter, Dienstwohnungen und sogar einem Kindergarten. Überall, Tag und Nacht, wurde noch gebaut und wurden Wege angelegt. In einem Mehrfamilienhaus, in dem auch das übrige Hauspersonal wohnte, wies man ihnen eine Wohnung zu. Im Büro des Hofmarschalls, SSObergruppenführer Brückner, einem riesigen Haudegen, der bereits 1923 an Hitlers mißlungenem Putsch in München teilgenommen hatte, mußten sie anschließend einen Eid auf den Führer ablegen, in dem sie schworen, alles, was sie auf dem Berghof hörten oder sahen, geheimzuhalten; auch ein Tagebuch zu führen war ihnen untersagt. Für den Fall, daß sie diesen Eid brachen, erwartete sie bestenfalls das Konzentrationslager. Diesen Eid wird er jetzt also nach über sechzig Jahren brechen, dachte Herter. Er sagte nichts, doch Falk hatte seine Gedanken gelesen: »Ich weiß nicht, ob ein Eid auch über das Grab hinaus Gültigkeit hat. All diese Menschen sind inzwischen tot, und vieles ist inzwischen sowieso bereits bekannt. Aber nicht alles.« Falk suchte nach Worten. »Ich weiß nicht, ob so etwas möglich ist, aber wir würden uns wünschen, daß Sie den Eid von uns übernehmen. Jedenfalls für die kurze Zeit, die uns noch bleibt, danach können Sie tun, was Sie wollen. Es geht um etwas, das wir nicht mit ins Grab nehmen möchten.«
»Das mache ich«, schwor Herter mit erhobenen Fingern – wobei ihm klar wurde, daß er sich jetzt auf satanisches Gebiet begeben hatte: Ein Eid verband ihn mit Falk, wie er Falk mit Hitler verbunden hatte.
9
»Wann sind Sie ihm zum ersten Mal begegnet?« fragte Herter, während er Julia noch einmal Feuer gab.
»Erst eine Woche später. Er hielt sich in Berlin auf, in der Reichskanzlei. Am nächsten Tag wurden wir allerdings Fräulein Braun vorgestellt.« »Der Frau des Hauses.«
»Das wußten wir damals noch nicht«, sagte Julia. »Das wußte praktisch niemand, nur ein ganz kleiner Kreis. Sie war angeblich eine seiner Sekretärinnen, doch alle sprachen von der ›Chefin‹. Ein paar Tage später, als ich ihr zum ersten Mal das Frühstück und die Morgenzeitung bringen mußte, da wurde mir klar, wie es sich wirklich verhielt. Die Sekretärinnen wohnten alle auf dem Anwesen …«
»Zur großen Zufriedenheit der SS-Offiziere«, warf Falk ein.
»Und von Bormann, nicht zu vergessen.« In Julias Gesicht war immer noch der Ausdruck des Mißfallens zu sehen. »Ihr Schlafzimmer war im Berghof selbst, auf der ersten Etage, und nur durch ein gemeinsames Badezimmer von Hitlers Schlafzimmer getrennt.«
Fräulein Braun war ein einsames, unglückliches Geschöpf, das aus politischen Gründen versteckt gehalten werden mußte, da der Führer allen deutschen Frauen gehören wollte. Eine blondierte, hübsche, in Gesellschaft immer gutgelaunte, sportliche Frau von vierundzwanzig Jahren – zwei Jahre älter also als Julia selbst, mit der sie sich sofort gut verstand. Sie war oft allein, manchmal tat sie monatelang nichts anderes, als Romane lesen, Schallplatten hören und in ihr Tagebuch schreiben. Weil es sonst niemanden gab, mit dem sie hätte reden können, zog sie Julia bald ins Vertrauen. Wenn der Chef nicht da war, rauchten sie in ihrem Schlafzimmer heimlich Zigaretten, flache ägyptische der Marke Stambul; wenn Hitler gewußt hätte, daß Fräulein Eva rauchte, dann hätte
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