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Siegfried

Siegfried

Titel: Siegfried Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Harry Mulisch
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Frühstück am nächsten Morgen scheuerte der Staub in ihren Augen. Maria hatte vor, sich die Dürer-Ausstellung in der Albertina anzusehen, zum Mittagessen wollten sie sich wieder treffen.
    »Falls ich später komme, dann unternimm noch etwas«, sagte Herter. »Das Flugzeug geht erst um halb neun.«
    Es herrschte ruhiges Herbstwetter. Auf dem Weg zum Taxistand, ein Exemplar der Erfindung der Liebe unter dem Arm, kaufte er einen Blumenstrauß für Frau Falk. Er dachte an seine gestrige Lesung. Die war nun auch wieder so endgültig vergangen, daß es war, als habe sie nie stattgefunden. Aberhunderte solcher Lesungen hatte er in seinem Leben gehalten, anfangs vor den höheren Klassen in weiterführenden Schulen, zu denen er mit Zug und Bus reisen mußte, später vor Kunstinteressierten und in Universitäten, wo er mit dem eigenen Wagen hinfuhr, und schließlich nur noch in hochangesehenen Gesellschaften des In- und Auslands, die ihm Flugtickets, Limousinen und Fünf-Sterne-Hotels boten. Doch immer war es am nächsten Tag so vergangen, als sei es nie geschehen. Die Zeit war ein Maul ohne Körper – ein Maul, das alles fraß, zermalmte und nichts übrigließ.
    Als er die Tür des Taxis öffnete, klang ihm Klaviermusik entgegen.
    »Satie«, sagte er, als sie losfuhren, »die Gymnopédien.« Der Anschlag war hart und das Tempo schnell.
    »Ist das Radio oder eine Kassette?« fragte er.
    »Eine Kassette.«
    »Wer spielt?«
    Der Fahrer, ein korpulenter junger Mann in den Zwanzigern, sah ihn kurz im Rückspiegel an.
    »Mein Vater.«
    »Ach. Nicht schlecht.«
    »Er ist vor drei Monaten gestorben«, sagte der Chauffeur, diesmal ohne ihn anzusehen. Herter seufzte. Wie war es möglich, die Menschheit nicht zu lieben? Hier lauschte ein anonymer Wiener Taxifahrer dem Klavierspiel seines toten Vaters, das er zweifellos selbst aufgenommen hatte.
    »Jetzt übernehme ich«, sagte der Chauffeur. Einen Moment herrschte Stille, dann ging das Klavierspiel fast unverändert weiter.
    Kein Blatt hing mehr an den Bäumen, und darüber hinaus wurden überall in der Stadt auch die umgewehten Bäume selbst mit kreischenden Kettensägen in Holzstapel verwandelt, die keine Gemeinsamkeit mehr mit einem Baum hatten. Wie paßte das alles zusammen? fragte sich Herter. Auf der einen Seite gab es einen das Herz rührenden Taxifahrer, auf der anderen Seite den blutrünstigsten Pöbel – welchen Reim konnte man sich darauf in Gottes Namen machen? Alle Kühe waren so wie alle anderen Kühe, alle Tiger so wie alle anderen Tiger – was war bloß mit dem Menschen geschehen? Der Musik lauschend, die mit zuviel Pedal gespielt wurde, fuhr er durch ärmliche Viertel, in denen er nie zuvor gewesen war. Das Altersheim Eben Haëzer, ein gro ßes rußgeschwärztes Gebäude vom Anfang des Jahrhunderts mit sechs Stockwerken, lag in einer trostlosen Straße am Stadtrand, hinter einem Bahnhof.
    In der gefliesten Eingangshalle saßen hier und da alte Menschen in Morgenmänteln auf Holzbänken, den Stock neben sich, Pantoffeln an den Füßen. Herter meldete sich beim Pförtner und erfuhr, daß er wegen Umbaumaßnahmen erst den Aufzug in die vierte Etage nehmen, dann sich nach links wenden und am Ende des Gangs mit dem Aufzug hinunter in den dritten Stock fahren mußte; dort sollte er schließlich dem Gang rechts folgen. Als er über den verschlissenen Läufer des Dutzende Meter langen Gangs in der vierten Etage ging, wo eine uralte Frau langsam vorwärts schlurfte, die sich an der über die gesamte Länge des Flurs angebrachten Stange festhielt, dachte Herter, wie seltsam es war, daß sein Leben ihn nun auch hierhin geführt hatte, unter ein Dach mit einer Hundertjährigen in einer Wiener Vorstadt.
    FALK
    Ullrich Falk, klein, in einer zu großen und wieder beigen Strickjacke, öffnete die Tür. »Willkommen, Herr Herter, habe die Ehre.«
    Das ganze Apartment war nicht halb so groß wie sein Arbeitszimmer in Amsterdam. Es roch muffig und stickig, die Fenster waren seit Monaten oder Jahren nicht geöffnet worden; nur der Geruch von frischem Kaffee machte es ein wenig erträglicher. In der winzigen Küche, wo die beiden offensichtlich auch aßen, goß Julia heißes Wasser aus einem Kessel in eine braune Kanne mit Filter – ein solches Modell hatte Herter seit seiner Jugend nicht mehr gesehen. Errötend nahm sie den Blumenstrauß in Empfang; es war offensichtlich, daß ihr seit langem niemand mehr Blumen geschenkt hatte. Er warf einen kurzen Blick in das seitlich gelegene

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