Siegfried
Österreich war. Und all diese Österreicher lagen im selben Jahr, achtzehnhundertzweiundneunzig, als süße Babys an der Mutterbrust, Seyß, Rauter, bis hin zu meinem eigenen Vater, der sich auch nicht besonders vorbildlich benommen hat. Der Vollständigkeit halber sage ich das gleich dazu.« Er wollte noch hinzufügen: »… damit Sie sich nicht schuldig fühlen« – doch diese Worte schluckte er hinunter; erst sollte sich zeigen, wie schuldig Falk sich fühlen mußte. Falk schwieg kurz und wechselte einen Blick mit Julia, die ihre Zigarette im Aschenbecher ausdrückte. Politik interessierte ihn nicht, fuhr er fort, anfangs habe er nichts damit anfangen können, seine Aufgabe sei gewesen, Bier, Wein und Wurst an die Tische zu bringen. Doch das habe sich geändert, nachdem er Julia kennengelernt habe. »Ja, gib mir nur ruhig die Schuld«, sagte Julia. Es war das erste Mal, daß sie sich ins Gespräch mischte. Ihre Entrüstung war jedoch gespielt, denn der Blick ihrer Augen verriet etwas anderes. Mit einer Kopfbewegung deutete sie auf Ullrich. »Schauen Sie sich ihn an. Sie werden es nicht glauben, aber damals war er ein goldblonder Edelgermane, zehn Zentimeter größer als jetzt, kerzengerade, kräftig und mit großen blauen Augen. Ich habe mich gleich in ihn verliebt.«
Sie sei die Tochter eines führenden Faschisten, der Buchhalter bei einem städtischen Transportunternehmen war; eines Abends habe sie ihren Vater abgeholt – und da schau her, inzwischen sei en Ullrich und sie seit sechsundsechzig Jahren ein Paar. Ullrich habe sie regelmäßig zu Hause besucht, wo ihr Vater ihm Mein Kampf zu lesen gegeben und ihn in kürzester Zeit für das nationalsozialistische Gedankengut begeistert habe. »Heute betrachtet man das alles aus der Perspektive von Auschwitz«, entschuldigte sich Falk, »doch das gab es damals noch nicht. Ich betrachtete es aus der Perspektive des elenden Österreich unter Dollfuß, wo meine Mutter sich zu Tode schuften mußte.«
Herter nickte schweigend. Falk verstand es, seine Geschichte aufzubauen, anzufangen mit der Vorgeschichte dessen, worauf er eigentlich hinauswollte. Offensichtlich hatte er sich vorbereitet. Er heiratete Julia und nahm jetzt nicht mehr nur als Ober an den illegalen Zusammenkünften teil, deren Ziel es war, Österreich abzuschaffen. Ein Jahr später, im Juli 1934, beteiligte er sich an einem gefährlichen bewaffneten Putschversuch im Bundeskanzleramt, bei dem Dollfuß ermordet wurde – ein Tag der Pannen und Mißverständnisse auf beiden Seiten. Im totalen Durcheinander gelang es ihm, zu fliehen und so seiner Strafe zu entgehen.
Wiederum zwei Jahre später, 1936, nahm seine Karriere einen unerwarteten Aufschwung. In zerknittertem Anzug tauchte an einem Frühlingstag ein Adjutant Hitlers bei einem der subversiven Skatabende in der Kneipe auf. Der berichtete, daß Hitler für den Berghof, sein Feriendomizil, einen vertrauenswürdigen Butler und Kammerdiener suche, dessen Frau im Haushalt arbeiten könne. Alle hätten sogleich ihn angesehen. Nachdem die Gestapo in München ihr Vorleben unter die Lupe genommen hatte und nachdem, in Zusammenarbeit mit der österreichischen Polizei natürlich, das Standesamt bestätigt hatte, daß sie Arier waren, stiegen Ullrich und Julia im Sommer in den Zug und fuhren nach Berchtesgaden.
»Keine kleine Aufgabe«, sagte Herter. »Zitterten Sie nicht vor Angst?«
»Angst … Angst …« wiederholte Falk. »Dafür gab es zu diesem Zeitpunkt noch kaum Anlaß. Der wirkliche Alptraum kam erst noch. Auch für uns. Ich war erst einmal froh, aus Österreich verschwinden zu können, denn es war immer noch möglich, daß die Polizei von meiner Teilnahme am Putsch erfuhr. Fünfzehn Jahre war das mindeste, was man dafür bekam. Dollfuß war heiliggesprochen worden. Möglicherweise wartete sogar der Strick auf mich.«
»Es war, als wären wir in einem Traum gelandet«, sagte Julia. »Ich weiß nicht, ob Sie einmal dort waren, aber … Heutzutage fährt jeder zwei- oder dreimal im Jahr in die Ferien ins Ausland, doch wir waren noch nie aus Wien weg gewesen, und plötzlich standen wir dort in der märchenhaften Alpenlandschaft. Bei schönem Wetter konnte man in der Ferne Salzburg sehen.«
»Hitler liebte dieses kleine Stück Deutschland, weil es eigentlich Österreich ist«, sagte Falk. »Schon Anfang der zwanziger Jahre fuhr er regelmäßig dorthin, um sich zu entspannen und nachzudenken. Wenn Sie auf die Karte schauen, dann sehen Sie, das es nach
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