Sieh mich an, Al Sony
Esther rief ich auch noch mal an.
»Ich versuche ein bißchen zu schlafen, Mädel«, sagte sie.
»Es ist wichtig, Esther. Ich stehe in alle Ewigkeit in deiner Schuld, das weiß ich.«
»Also gut, schieß los.«
»Du hast doch noch meine Schlüssel.«
»Ja.«
»Geh in die Wohnung. Aber sing nicht dabei, oder so was. Mäuschenstill, okay? Hol mir ein paar Sachen zum Anziehen, genug für ein paar Tage, und auch was Hübsches, das schwarze Kleid und Schuhe, die Schnürstiefel mit den Absätzen und — ach ja, die Zahnbürste. Und aus dem Schreibtisch neben dem Computer mein Kontaktbuch.«
»Kontaktbuch? «
»Mein Adreßbuch.«
»So’n Filofax-Ding?«
»Nein, es ist eine kleine Schulkladde.«
»Okay. Willst du verreisen oder was?«
»Ich tauche ein bißchen unter. Ziehe zu einem Freund. Okay?«
»Versteckst du dich vor ihm?«
»So was Ähnliches. Nimm keinen Koffer; schmeiß alles in den großen Wäschesack. Es soll nicht so aussehen, als ob ich verschwinde.«
»In den roten Sack? Der ist aber voll. Der ist immer voll.«
»Mach ihn leer... und dann bringst du ihn mit meinen Sachen in den Waschsalon in der Quebec Street. Wir treffen uns da in einer halben Stunde.«
»Wieso diese Heimlichtuerei?«
»Er beobachtet mich und folgt mir. Ich muß für ein Paar Tage verschwinden und nachdenken.«
»Okay. Aber ihr jungen Leute solltet mal lernen, über euren Kram zu reden.«
Shinichro erwartete mich auf halbem Wege auf der Piazza in Covent Garden. Es war ein warmer, sonniger Abend, und der Platz war voll von Touristen, die hier teuren Schnickschnack kaufen und den Straßenentertainern beim Jonglieren und Moonwalken zuschauen wollten. In Cafés und Pubs drängten sich Theaterbesucher und Büroangestellte, die das Ende einer weiteren Woche der Raffgier feierten. Shinichro stand an der Ecke der Floral Street mit einer Plastiktüte in der Hand, in der eine säuberlich gefaltete Spätausgabe des Evening Standard steckte. Er nickte mir zu, als ich herankam. Sein Gesicht war immer noch lädiert.
»Du siehst sehr hübsch aus«, sagte er.
»Du auch, trotz... du weißt schon.« Ich deutete auf sein Gesicht. »Was macht die Arbeit?«
Er antwortete nicht. Die Arbeit lief anscheinend in letzter Zeit nicht eben wunderbar.
»Laß uns was trinken«, sagte ich.
Wir gingen gegenüber in einen Pub, in dem viel Betrieb herrschte, und Shinichro bestand darauf, die erste Runde zu spendieren. Es dauerte eine Ewigkeit, und als er von der Theke zurückkam, sah er ein bißchen zerzauster und angewiderter aus als vorher. In Massen konnte er uns immer noch nicht ertragen, uns berühren, unsere Ausdünstungen einatmen und unsere wilde Sprache hören.
»Ich habe dich im Savoy gesehen«, sagte ich, während er sich erholte und den ersten Schluck von seinem kalten Bier trank. Er reagierte nicht sehr heftig. Er blinzelte einmal, nahm sich Zeit, wischte sich mit dem Handrücken den Bierschaum von den süßen Lippen.
»Ich habe dich auch gesehen mit deinem neuen Freund, dem Gangster.«
»Du warst gut. Cool, wie du das Zeug übergeben hast. «
»Es freut mich, daß dir die Vorstellung gefallen hat.«
»Ich wollte dich fragen... «
Seine Augen wurden ein bißchen schmaler.
»Ich wollte dich fragen, ob die Drams, die du da übergeben hast, dieselben waren, die Charlie gewonnen hatte.«
Er antwortete nicht sofort. Er schaute mir mindestens dreißig Sekunden lang fest in die Augen. Dann sagte er: »Nein« und nahm noch einen Schluck. Ich mußte ihn ohne Umschweife fragen.
»Hattest du sie von Hiroshi Sano?«
»Nein.«
»Dann waren sie also nagelneu.«
»Aus unserem Lager in Harrow. Ist das wichtig?«
»Mit der ersten Lieferung hatte es irgend etwas Besonderes auf sich, Shiny.«
»Inwiefern?«
»Das weiß ich nicht.«
»Wer weiß es?«
»Pal.«
»Dein Freund.« Die Worte waren in Säure mariniert.
»Er hat mich kaum schlechter behandelt als du... besser«, sagte ich. Shinichro schaute weg.
»Er wollte Charlies Drams von Anfang an kaufen, verstehst du - die, die Charlie in Las Vegas gewonnen hatte. Als sie verschwanden, blieb er in der Nähe. Erst dachte er, ich hätte sie genommen. Ich überzeugte ihn, daß ich sie nicht hatte - zumindest dachte ich, ich hätte ihn überzeugt-, und dann verdächtigte er Hiroshi Sano. Ich habe dir gesagt, was Hiroshi Sano meiner Meinung nach vielleicht im Schilde führte. Ich wußte nicht, ob Pal ihn umgebracht hat oder nicht, um die Wahrheit zu sagen. Dann dachte ich, vielleicht hat er es
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