Siesta italiana: Meine neue italienische Familie
auch für die Pflegenden, die tun, was sie können, um dessen Leid zu lindern, obwohl sie genau wissen, dass sie ihm nichts ersparen können.
Fünf Jahre nach seiner Alzheimer-Diagnose lag Francos Zukunft hinter demselben Nebelschleier wie seine Vergangenheit. Im Gegensatz zu seinem Haaransatz bildeten sich Francos Gehirnzellen immer weiter zurück und ließen seinem ansonsten gesunden Körper keine andere Wahl, als ebenfalls abzuschalten. Sein Verfall war langsam, aber unaufhaltsam. In dem Jahr, in dem ich Danielas Vater mittlerweile kannte, war bei ihm jede Wut verflogen, und er stieß keine Obszönitäten mehr aus wie damals, als er den Besenbaum beschimpft hatte. Seine Stimme war leiser geworden und kaum mehr als ein Murmeln, und sein Gestammel war beinahe stets unverständlich. Seinen Darm und seine Blase konnte er nicht mehr kontrollieren, und sein schönes Gesicht wirkte nicht länger verwirrt. Da er das Fragen vergessen hatte, musste er auch nicht mehr nach Antworten suchen.
Francos Unfähigkeit, sich mitzuteilen, machte seine Pflege zum reinsten Rätselraten. Hatte er Hunger? Hatte er Kopfschmerzen? Brauchte er noch eine Decke? Einen dünneren Schlafanzug? Noch ein Kissen? Hatte er sich etwas gebrochen, als er gestern die Stufen hinuntergefallen war, außer unser Herz und ein paar stümperhaft verlegte Fliesen? Im Grunde brauchte Franco ein Medium und keine Krankenschwester, und Valeria konnte nur hoffen, dass das stumme Leid ihres Mannes von der täglichen Routine etwas gelindert wurde, die sie für seine Palliativpflege etabliert hatte. Eine Routine, die ich und Daniela in Abwesenheit ihrer Mutter strikt befolgten.
Koffein wirkte dem Trommelfeuer an Tranquilizern entgegen, die benötigt wurden, um Franco ruhigzustellen. Wenn ich seine serranda öffnete und ihm seinen Morgenkaffee brachte, lächelte Franco manchmal. Aber normalerweise starrte er ausdruckslos vor sich hin, so als probe er schon mal den Tod. Dann begann der mühsame Prozess, den Patienten aus dem Bett zu kriegen, ihn zu waschen und anzuziehen und, was das Schwierigste war, ihn zu füttern. Das Problem bestand nicht darin, ihn zu überreden, das, was auf dem Löffel war, in den Mund zu nehmen, sondern ihn an das Schlucken zu erinnern. Seine Gedanken verloren sich im Nirgendwo, und nur wenn ich ihm einen weiteren Löffel einflößte, schaffte ich es, dass er Platz für noch einen Happen machte. Danach mussten zwar sowohl sein Lätzchen als auch sein Bart gesäubert werden, aber seine Augen strahlten mehr als vorher, und sein Tag hatte begonnen – derselbe wie gestern und ein Klon desjenigen von morgen.
Nach dem Frühstück überwachte ich Francos Morgenspaziergang im Garten. Graues Haar fiel auf den Kragen seines leichten Herbstjacketts, während er die Veranda entlangschlurfte und seine Schuhsohlen aufrieb. Der dünne Mann kam nie so weit wie seine Gedanken. Er gab Bruchstücke von Unterhaltungen von sich, bevor er abrupt stehen blieb und laut lachte. Selten schwieg er, außer wenn er eine Blume pflückte und sie in den Mund nahm, woraufhin ich mich fragte, ob ich ihm wohl genug zum Frühstück gegeben hatte.
Danielas Haus lag an der Hauptstraße, die zur Piazza führt. Sie war sehr belebt, und die Passanten grüßten Franco, wenn sie ihn im Vorgarten sahen. Radfahrer klingelten und riefen: » Ciao professore!« – Francos Titel, weil er am örtlichen Gymnasium unterrichtet hatte. Motorradfahrer hupten, Fußgänger winkten, und manche fassten sogar zwischen den Gitterstäben hindurch, um seine linke Hand zu wärmen, die wegen ihrer schlechten Durchblutung blau angelaufen war. Er drückte sie zur Faust geballt an seine Brust, so als bereite er sich darauf vor, die Götter für sein Schicksal zu bestrafen.
Die Passanten wussten, dass sie von Franco keine Antwort erwarten durften, da er längst mehr auf die Stimmen in seinem Kopf reagierte als auf die Begrüßungen von Freunden und Familienangehörigen. Er drehte oft den Kopf, um irgendwelche Schatten oder das Nichts zu begrüßen. Ich weiß nicht, was mich mehr verstörte: dass er Menschen ignorierte oder welche erfand. Die meisten riefen ihm einen Gruß zu und gingen weiter wie der Postbote, der uns condoglianze -Telegramme wegen des Todes von Valerias Mutter brachte.
Fast alle Andranesi grüßten Franco, aber manche eilten am Haus vorbei, ohne einen Blick in den Garten zu werfen, aus Angst, was sie dort sehen könnten. Mehrere enge Freunde waren unfähig, mit seinem geistigen Verfall
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