Siesta italiana: Meine neue italienische Familie
fand ich ihn jedes Mal in einer Ecke vor, wie ein kleines Kind, das Verstecken spielt und bis hundert zählt. Ich hätte ihn bis tausend zählen lassen können, und er wäre immer noch da gestanden und hätte sich gewundert, warum seine Welt verschwunden war. Ich drehte ihn um, und schon ging’s wieder los, als Nächstes zum Sofa, wo er nach einem Kissen griff, es eine halbe Stunde mit sich herumtrug, bevor er es auf den Computer in meinem Arbeitszimmer legte. Am Nachmittag lief er jede Fliese im ganzen Haus ab. Valeria hätte ihm den Staubsauger mitgeben sollen.
Überall an den Wänden hingen seine Kunstwerke, Gemälde und Zeichnungen, die wie seine Gedichte eine mehr als zögerliche Liebe zu seiner Heimat preisgaben. Die vertrauten Merkmale der hiesigen Landschaft waren verzerrt und deformiert worden, so als wisse er ihr Vorhandensein zu schätzen, wünsche sich aber, dass sie sich veränderten. Er blieb vor den Bildern stehen und fuhr mit den Fingern über die Pinselstriche, über Fragmente eines Ganzen, das er nicht mehr begriff. Dann schloss er die Augen, wie um sich zu erinnern, bevor er sich von dem Bild abwandte, während seine Hand immer noch weitermalte, bis auch sie ihr Vorhaben vergaß und schlaff an der Seite des Künstlers herabhing.
Ich hätte zu gern mit Franco geredet, ihn nach der Bedeutung bestimmter Bilder gefragt und den Mann dahinter kennengelernt. Ich wünschte, er könnte mir selbst von seiner Vergangenheit erzählen und nicht nur seine Tochter. Dass das alles nicht ging, frustrierte mich, und manchmal hätte ich ihn am liebsten geschüttelt, um ihn aus seiner Trance zu reißen, in die er gefallen zu sein schien. So lange, bis er mich mit der kräftigen Stimme, die er einst besaß, anschreien würde, ich solle aufhören. Solange, bis das Genie vor mir stand und nicht der Idiot. Ich hielt seine Arme fest. » Professore, professore! « Nichts, nur die Tränen in meinen Augen und das Geräusch schlurfender Füße, die in dieselbe Zimmerecke eilten, aus der sie gerade gekommen waren.
Franco, der nicht mehr in der Lage war, ihre Funktion zu erkennen, hortete alle möglichen Gegenstände. Seine Hosen wogen schwer wegen der vielen Gartenkiesel, Gabeln, Haken, Schlüssel, Seifen und anderem Krimskrams. Wenn wir etwas suchten, sahen wir zuerst in Francos Hosentaschen nach. Er sammelte so viel Zeug, dass er am Ende des Tages einen Flohmarkt in seiner Jeans hätte veranstalten können.
Im Sommer hortete Franco seine Schätze in seinen Hosentaschen, aber im Winter warf er sie ins Feuer und erhöhte die Temperatur eines Raums, in dem wir uns anstrengten, cool zu bleiben. Eines Abends las ich gerade auf dem Sofa, als Franco vorbeitrottete, mir mein Buch entriss und es in die Flammen warf. Die Kissen im Wohnzimmer teilten dasselbe lodernde Los, genauso wie ein Paar meiner Schuhe, Valerias Handtasche, verschiedene Telefonrechnungen und Danielas Wintermantel.
Solche Possen verliehen Franco Charakter, auch wenn die Krankheit ihr Bestes tat, ihm jeglichen zu nehmen. Aber sobald er vor dem Spiegel stand, nahm diese schwarze Komödie ein Ende. Wie ein Neugeborenes, das er, wenn man den Ärzten glaubte, mental gesehen auch war, konnte Franco einfach nicht verstehen, dass das, was er sah, nur ein Spiegelbild war. Als er noch wütend sein konnte, wehrte er sich gegen den Eindringling, befahl ihm zu gehen oder hinterfragte die Keuschheit seiner Mutter. Spiegel waren Türen und keine visuellen Echos. Wie schon beim Kaminfeuer bestand Valeria darauf, die Spiegel hängen zu lassen, um dem Haus wenigstens noch den Anschein von Normalität zu geben. Aber als ich für Franco verantwortlich war, drehte ich sie zur Wand.
Wie immer kamen Valerias Freundinnen vorbei, wenn sie weg war, und brachten Gemüse von ihren Feldern oder Fleisch vom Metzger. Das ist die italienische Form von Nachbarschaftshilfe: jemandem etwas zu essen bringen, der ohnehin schwer an etwas zu kauen hat. Beinahe der ganze Ort trug das Seine zum Kampf hinter der Hausnummer 15 bei. Il farmacista brachte Francos Medikamente, der Schuster gab Valerias Schuhe ab, und eine Nonne kam mit einer Plastikmadonna vorbei, die mit heiligem Wasser aus Lourdes gefüllt war. Sie war für Franco und seine Wunderheilung bestimmt, doch sie hätte besser daran getan, sie mit Gin zu füllen und sie Valeria zu schenken.
Eines Morgens gab ich Franco gerade sein Frühstück, als der Bürgermeister von Andrano klingelte. Er war gekommen, um ein Poster zu zeigen, das man im
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