Siesta italiana: Meine neue italienische Familie
etwas wie ein Hausmann geworden, während seine Frau Rosaria in Lecce in einem Büro arbeitete. Nachdem Rosaria den Tisch abgeräumt, aber unsere Gläser stehen gelassen hatte, flüsterte Carlo seinem Sohn Roberto etwas zu. Daraufhin verließ dieser kurz den Raum, bevor er mit einem Stapel Papier zurückkehrte – es wurde also höchste Zeit, mir mein Essen zu verdienen. Diesmal handelte es sich um keine Übersetzung, sondern um ein Bewerbungsschreiben auf eine Stelle in Rom, bei einer Firma, die angeblich die Positionen von Weltraumsatelliten kontrolliert. Das Bewerbungsformular musste auf Englisch ausgefüllt werden, eine Sprache, die weder Roberto noch seine Eltern – noch sonst irgendjemand in Andrano – beherrschte.
Obwohl Roberto relativ ausgefüllt damit war, den ganzen Tag mit seiner Vespa durch den Ort zu düsen, wollte ihn Carlo unbedingt loswerden, damit er ihm nicht länger auf der Tasche lag. Er war dermaßen verzweifelt, dass ihn die absolute Unqualifiziertheit seines Sohnes für diesen Job kein bisschen zu stören schien. Nachdem ich mir das Formular durchgelesen hatte, bekundete ich meinen Widerwillen fortzufahren und erklärte möglichst höflich, dass Roberto keinerlei Chancen habe. Carlo, dessen Schnurrbart mit Tomatensauce bekleckert war, befahl mir jedoch, jede Frage bestmöglich zu beantworten und seinen Sohn notfalls zum Doktor zu machen, wenn es das war, was die Firma hören wollte. Ich nahm einen großen Schluck grappa und bemühte mich, Carlo und seinem Prachtstück von Sohn zu erklären, dass die Firma, wenn ich seinen Sohn zum fließend Englisch sprechenden Ingenieur erklärte, auf jeden Fall erwarten würde, dass er die Lügen auf dem Formular vorlesen könne, wenn es zum Bewerbungsgespräch käme.
Carlo, der merkte, dass ich nicht lügen wollte, versicherte mir schnell, dass Roberto vor dem Vorstellungsgespräch durchaus noch Englisch lernen würde. »Schau nur, wie gut du Italienisch gelernt hast«, sagte er. »Wie schwer kann das sein?« Als ich das als höchst unwahrscheinlich abtat, wurde Carlo ungeduldig, holte ein Stück Papier aus seiner Brusttasche und hielt es mit so einer dramatischen Geste hoch wie ein Fußballschiedsrichter die rote Karte. »Siehst du das, Crris?«, fuhr er fort, ließ das Stück Papier auf den Tisch fallen und klopfte zweimal darauf wie bei einem Zaubertrick. »Mit diesen Kontakten zum Vatikan ist das Formular, das du ausfüllst, reine Formalität. Wahrscheinlich wird es sowieso nie jemand lesen.« Sein Gelächter wich einem Husten, als er sich eine weitere Zigarette anzündete. »Und warum füllt es dann Roberto nicht aus?«, fragte ich trotzig und überraschte alle am Tisch, vor allem aber Daniela, die um die harmonische Stimmung fürchtete.
Meritismo sagte diesem Faulenzer nicht das Geringste. Wenn man einen Job bekam, dann, weil man jemanden kannte, und zwar unabhängig davon, was man alles nicht konnte. An Carlos Abendbrottisch prallten zwei Welten aufeinander. Er hatte mir Essen gekocht, mir grappa eingeflößt und mir Komplimente über mein Italienisch gemacht. Was musste er noch alles tun, um mich ins Boot zu holen? Statt seinen Sohn zu erziehen, versuchte Carlo, mich zu erziehen: »Wir sind hier in Italien, Crris«, sagte er. »Was ich vorhabe, ist gar nichts. Es gibt Leute, die dafür bezahlen, einen Job zu bekommen.« Na, dann zück mal lieber dein Scheckbuch, Carlo.
Carlos Situation erinnerte mich an einen Cartoon, den ich in einer italienischen Zeitung gesehen hatte. Die »Davor«und »Danach«-Bilder kommentierten die Nachricht von der Abschaffung der Wehrpflicht und die Absicht, die Zwangssoldaten durch gut bezahlte Berufssoldaten zu ersetzen. Der »Davor«-Cartoon, der sich auf die Wehrpflicht bezog, zeigte den Vater eines dämlich aussehenden Jungen, der einen General bestach und ihn bat, er solle dafür sorgen, dass sein Sohn nicht eingezogen würde. Der »Danach«-Cartoon zeigte dieselbe Szene, nur dass der Vater den General diesmal bat, dafür zu sorgen, dass sein Sohn eingezogen würde.
In Süditalien, wo Jobs extrem dünn gesät sind, tun besorgte Väter wie Carlo alles, um ihren Kindern eine Stelle zu verschaffen. Das rief mir wieder vor Augen, was für ein Glück ich hatte, in Lecce unterrichten und in Andrano schreiben zu können. Der Stiefelabsatz ist für die italienische Regierung seit Langem so etwas wie eine Achillesferse. Und wenn die Situation in Apulien kritisch war, dann war sie in Kalabrien katastrophal – die
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