Siesta italiana: Meine neue italienische Familie
Füßen.
Da die Betten nicht durch Vorhänge voneinander getrennt waren, aß ich mein Mittagessen und sah, wie der Mann neben mir auf seine Operation vorbereitet wurde. Der Rentner, der Rocco hieß, wurde auf den Bauch gerollt. Dann schob man sein Nachthemd hoch und rammte ihm eine Spritze in sein schneeweißes Hinterteil. Wie meine Mitpatienten gab ich vor, seinen muskulösen Po zu ignorieren. Für einen alten Herrn war er ziemlich gut in Form, war er doch einer jener unermüdlichen Bauern des Salento, wie mir seine Frau später anvertraute.
Die mangelnde Privatsphäre verschlimmerte unser Leid zusätzlich, aber wie im Adria-Express führten solche Zumutungen dazu, dass wir uns solidarisierten. Wenn sich Italiener unwohl fühlen, wird geredet, was das Zeug hält. Für einen Ausländer kann so eine Unterhaltung schnell in eine Sackgasse münden. Meine Zimmergenossen waren nämlich süditalienische Bauern, sonnengegerbte, einfache Leute, die eine Mischung aus Dialekt und Italienisch sprachen. Für sie war Italiens gruseliges, aber Gratis-Gesundheitssystem ein noch größeres Geschenk des Himmels als die Nonnen, die das Krankenhaus führten. Das waren Leute, die Apulien nie verlassen hatten und deren Fragen höflich, aber ahnungslos waren, etwa wie jene, welche Sprache wir in Australien sprechen. Man braucht Übung, solche Fragen zu beantworten, ohne überrascht zu wirken, aber an Übung sollte es mir während meines Aufenthalts unter diesen erstaunlichen Menschen nicht mangeln. Es wäre mehr als engstirnig gewesen anzunehmen, dass sie mir nichts beizubringen hätten.
»Wo liegt Australien?«, fragte Uccio aus dem Bett am Fenster.
»Bei Amerika, stimmt’s?«, mutmaßte seine Frau und sah mich Bestätigung heischend an.
»Nein, es …«
Aber meine Erklärungsversuche wurden sofort abgewürgt.
»Italien ist das beste Land der Welt«, verkündete Roccos Frau, die damit begonnen hatte, ein Spitzendeckchen zu häkeln. Die zerbrechliche Frau hatte sich noch nie weiter nach Norden als bis Bari vorgewagt. Trotzdem konnte sie im derbsten Dialekt so eine Behauptung aufstellen, und das einem weit gereisten Australier gegenüber, der besser Italienisch konnte als sie selbst. Menschen, die keinerlei Vergleichsmöglichkeiten haben und ihr Land für das beste überhaupt erklären, haben etwas amüsant Patriotisches, aber eben auch etwas frustrierend Ignorantes. Diese Leute hatten bis auf ihren Fernseher keinerlei Verbindung mit der Außenwelt.
Sie waren genauso naiv wie der Freund, der versuchte, mir eine Postkarte nach Australien zu schicken, die allerdings zurückkam, weil das Porto maximal bis Marittima gereicht hätte.
Aber wenn Italien das beste Land der Welt war, warum kritisierten sie dann alles, was sie sahen – vom Mittagessen über das fehlende Toilettenpapier und den Gestank bis hin zu dem kaputten Stuhl? » È una schifezza! «, riefen sie ein ums andere Mal. »Es ist eine Schande!« Warum? Weil Italiener über das lamentieren, was sie lieben. Hätte ich mich über das fehlende Toilettenpapier beklagt, hätten sie sich bestimmt verteidigt und gesagt, solche Unzulänglichkeiten machten sie erst zu fantastischen Improvisatoren. In diesem Punkt wären wir uns dann wenigstens einig gewesen. Aber welchen Sinn hat es, ein Krankenhaus arrogant abzuurteilen, das gleichzeitig der Stolz der gesamten Region war? Meine Realität lag außerhalb ihres Erfahrungsbereichs und ihre lange außerhalb von meinem.
Wir hatten wenige Gemeinsamkeiten, und schon bald war meine Gegenwart vergessen. Aber ich erfuhr so fast noch mehr über diese Leute, indem ich ihnen einfach nur zuhörte. Sie lernten sich schnell kennen, weil sie sich so ähnlich waren, alles ältere Menschen mit dem Süden im Blut. Sie fragten sich, welchen staubigen Winkel des Salento sie als Heimat bezeichneten, und als sie merkten, dass die meisten auch in näher gelegene Krankenhäuser hätten gehen können, wollten sie wissen, warum man sich ausgerechnet fürs Falese entschieden hatte. Hochgezogene Brauen legten nahe, dass es sich dabei um eine rein rhetorische Frage handelte, und Roccos Frau sagte diesmal deutlich taktvoller: »Wir trauen den Ärzten hier.«
Ich fragte mich, ob sie dieses Vertrauen wohl hinterfragte, als ihr Mann zurück ins Zimmer geschoben wurde, der mehr Ähnlichkeit mit einem Kind in einem Buggy als mit einem kranken Mann auf einer Rollbahre hatte. Wir sahen mitleidig zu, wie sein Bett vor die Wand geschoben, sein Nachthemd hochgeschoben und
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