Sigma Force 05 - Das Messias-Gen
mit ANFO-Sprengstoff gefüllt. Die Bohrungen führten in eine Verwerfung unter dem Karatschai-See. Die Sprengladungen waren so ausgelegt, dass sie nacheinander detonieren und ein Loch am Grund des vergifteten Sees reißen würden, sodass sich der tödliche Brei aus radioaktivem Strontium und Cäsium in den Schacht ergießen würde.
»Hier drüben, Generalmajorin.« Der Techniker deutete zum Rand der Höhle.
In den Boden war ein drei Meter durchmessender kreisförmiger Lukendeckel eingelassen, den sie von der Sewmorput-Schiffswerft in Murmansk erworben hatte. Es handelte sich um den neuesten Raketensilo-Verschluss, bestehend aus sechs Segmenten halbmeterdicken Stahls in Form einer Irisblende.
Sie stieg von dem Verschluss und trat vor einen Tisch mit einem Diagnose-Laptop. Der Monitor zeigte einen Bauplan
an. Mehrere Männer hatten mit der Arbeit innegehalten und schauten zu.
Der Ingenieur sprach in ein Funkgerät, lauschte und nickte Sawina zu. »Im Kontrollraum ist alles bereit. Noch zehn Sekunden bis zur Zündung.«
Sawina verschränkte die Arme vor der Brust. Das Kontrollzentrum lag in Tscheljabinsk-88, in einem der verlassenen Wohnblöcke aus der Sowjetzeit. Zahlreiche Techniker waren in dem kleinen, mit Monitoren und Computern vollgestopften Raum versammelt. Wenn die Bohrstelle evakuiert war, würden dreißig Kameras Bilder übertragen.
Der Ingenieur zählte die Sekunden herunter. »Drei … zwei … eins … Zündung .«
Ein Knacken kam von der Silotür, dann öffneten sich die Stahlsegmente wie die Irisblende einer Kamera. Als die Öffnung größer geworden war, drang gedämpftes Wassertosen aus der Tiefe herauf. Sawina trat vor die Iris hin und blickte hindurch. Ein Schacht führte senkrecht zweihundert Meter durch das Gestein.
Der Ingenieur trat neben sie und leuchtete mit einer schweren Taschenlampe in den Schacht hinein. In der Tiefe machte sie silbrige Reflexe aus. Ein unterirdischer Fluss. Im Ural gab es zahlreiche solche Wasserläufe, gewaltige Grundwasserleiter, die das Hochland entwässerten. An der anderen Seite des Gebirges mündete das Wasser ins Kaspische Meer, doch hier speisten die Grundwasserleiter eine Reihe von Flüssen, darunter die Techa und den Ob, die ins Arktische Meer mündeten.
Sawina wandte sich um und blickte in den ansteigenden Schacht, der zu der Verwerfung unter dem Karatschai-See führte. Der See enthielt hundertmal mehr Cäsium und Strontium, als bei der Katastrophe von Tschernobyl freigesetzt worden war. Und die strahlende Giftwolke von Tschernobyl hatte
sich um die ganze Erdkugel verteilt. Sie blickte sich zu dem Schacht um, der zum Grundwasserleiter hinunterführte.
Die Gefahr war seit Längerem bekannt. Die Geologen wussten über die Verwerfungen unter dem Karatschai-See Bescheid. Es war nur eine Frage der Zeit, wann es bei einem Erdbeben zu Rissen kommen und sich die gesamte Radioaktivität in das Drainagesystem des Urals ergießen würde. Norwegische Geophysiker nahmen an, dass bei einer solchen Katastrophe das Leben in einem Großteil des Arktischen Ozeans, einer der letzten großen Wildnisse der Erde, vollständig aussterben würde. Von dort aus würde der strahlende Müll um den halben Planeten verteilt werden und seine schlimmste Wirkung im nördlichen Europa entfalten. Konservativen Schätzungen zufolge würden einhundert Millionen Menschen der Primärstrahlung und daraus resultierenden Krebserkrankungen erliegen. Diese Zahl konnte sich aufgrund der ökonomischen und ökologischen Schäden leicht verdoppeln oder verdreifachen.
Ihr Blick wanderte vom ansteigenden Schacht zu dem unterirdischen Fluss. Die Gefahr war stets gegenwärtig gewesen, doch man hatte sie nicht wahrhaben wollen. Die Natur brauchte lediglich einen kleinen Anstoß.
Dann würde die Welt brennen.
Ihr Atem beschleunigte sich, als sie sich das Ausmaß des bevorstehenden Wandels vergegenwärtigte. Aus dem radiologischen Feuer würde ein neues Russisches Reich erstehen, ein Phönix aus der nuklearen Asche.
Nichts konnte sie mehr aufhalten.
Sie hatte ihr ganzes Leben und ihre Seele in den Bau eingebracht, um ihrem Heimatland zu dienen. Was war nach so vielen Opfern und so viel Blutvergießen von Russland noch übrig? Im Laufe der vergangenen Jahrzehnte hatte Sawina beobachtet, wie ihr Heimatland sich in einen korrupten, bemitleidenswerten
Schatten seiner selbst verwandelt hatte. Jetzt, gegen Ende ihres Lebens, würde sie neue Hoffnung säen. Das würde ihr Vermächtnis sein, vollendet durch
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