Sigma Force 05 - Das Messias-Gen
während die Limousine die Straße entlangfuhr. »Die Geburtsakten sind niemandem zugänglich.«
Diese Regel hatte von Anfang an gegolten. Die familiären Beziehungen wurden weitgehend geheim gehalten. Um unerwünschten geschlechtlichen Beziehungen vorzubeugen, wussten die Kinder, wer ihre Brüder und Schwestern waren, doch das war auch schon alles. Die Fortpflanzung wurde von den Genetikern diktiert und kontrolliert.
Nicolas aber war kein gewöhnliches Kind gewesen. Als Sohn der Gründerin hatte man für ihn eine komplette Familiengeschichte
erfunden, die in Jekaterinburg begann, wo er vorgeblich von einer Frau mit Namen Solokow im Krankenhaus zur Welt gebracht worden war. Seine tatsächliche Mutter hätte den Namen Romanow vorgezogen, doch das wäre allzu offensichtlich gewesen. Von Anfang an war er für Höheres ausersehen gewesen. Folglich genoss er auch gewisse Privilegien.
»Eines Tages habe ich mir die Akten der Fertilisationsklinik angeschaut«, sagte er. »Ich wollte wissen, ob ich Kinder hatte. Bei der Gelegenheit habe ich entdeckt, dass Sascha und Pjotr von mir abstammen. Aber ich durfte nicht darüber sprechen.«
Er wollte ihr die Hand aufs Knie legen, doch er wagte es nicht, Jelena zu berühren. »Um solch begabte Kinder zu zeugen, hat meine Mutter unsere Verbindung überhaupt erst gefördert. Das war der Versuch, eine erfolgreiche genetische Kreuzung zu wiederholen.«
Jelena sah ihn noch immer nicht an. Ihre kalte Selbstbeherrschung übte auch einen gewissen Reiz auf ihn aus. Er verlangte danach, sie zu berühren, sie aber hatte ihm noch nicht die Erlaubnis erteilt.
»Bitte, milaja moja , verzeih mir.«
Sie reagierte nicht.
Er seufzte und blickte nach vorn.
Durch die Trennscheibe hindurch sah er das Kraftwerk von Tschernobyl. Der von einem Wartungsgerüst eingefasste Schornstein ragte hoch in den Himmel. Umgeben war er von einem Durcheinander von Betongebäuden. An der einen Seite stand die klotzige Krypta aus schwarzem Betonstahl. Sie sah aus, als schwitze sie Feuchtigkeit aus. Kein Wunder, dass man das Gebilde als Sarkophag bezeichnete. Es glich einem schwarzen Grabmal und barg in seinem Innern die Ruinen des Reaktors Nummer vier.
Nicolas hatte Aufnahmen des Inneren gesehen, eine verwüstete Landschaft aus verrußtem Beton und verbogenem Stahl. In einem Raum war eine verkohlte, halb geschmolzene Uhr, die zum Zeitpunkt der Explosion stehen geblieben war. In dem Sarkophag waren mitsamt der Trümmer über zweihundert Tonnen Uran und Plutonium begraben, das meiste davon in Form erstarrter Lava, die sich aus dem geschmolzenen Kernbrennstoff, dem Beton und zweitausend Tonnen brennbaren Materialien gebildet hatte. Brocken des explodierten Kerns fanden sich überall, einige waren sogar in die Außenwände eingebettet. Auf den unteren Kraftwerksebenen hatte sich eine radioaktive Brühe aus durchgesickertem Regenwasser und Brennstoffstaub gebildet.
Wen wunderte es da, dass eine neue Lösung gefunden werden musste?
Zur Linken lag die Antwort.
Sie hatte viele Namen: Schutzcontainer, Lebenskuppel, Neuer Sarkophag. Das kuppelförmige Gebilde ragte siebenunddreißig Stockwerke hoch empor. Es wog über zwanzigtausend Tonnen, war über zweihundertfünfzig Meter breit und dreihundertfünfundsiebzig Meter lang. Das Gebilde hatte solch gewaltige Ausmaße, dass die Techniker fürchteten, es könnten sich darin Wolken bilden und abregnen. An der Unterseite der Kuppel warteten von Technikern aus sicherer Entfernung ferngesteuerte Roboterkräne darauf, den alten Sarkophag Stück für Stück abzureißen.
Aber die Dinge waren bereits in Bewegung geraten.
Der ganze Container ruhte auf geschmierten Stahlschienen und wurde von zwei gewaltigen hydraulischen Winden langsam vorwärtsbewegt. Es war das größte bewegliche Gebilde, das je von Menschenhand erbaut worden war. Um elf Uhr sollte der Container über den alten Sarkophag gezogen und mit dem angrenzenden Betongebäude verbunden werden.
Dann würde er die strahlende Gruft vollständig einhüllen, würde diese hässliche Hinterlassenschaft Russlands für immer verbergen und von einem Neuanfang künden.
Das war ein passendes Ereignis, um das Gipfeltreffen einzuleiten. Ein Gipfeltreffen, das bedauerlicherweise niemals stattfinden würde.
Die Limousine näherte sich der Tribüne an der Südseite des alten Sarkophags. Die geladenen VIPs nahmen bereits die Plätze ein. Auf der Bühne vor der Tribüne wurden die ersten Reden gehalten. Den Höhepunkt sollte die
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