Sigma Force 05 - Das Messias-Gen
sich bewusst, wie schmerzhaft die Todesnachricht für sie sein musste. Elizabeth Polk saß zusammengesunken auf dem Stuhl, ein Häufchen Elend in einem weißen Kittel. Tränen vergoss sie keine. Dafür war der Schock zu groß. Allerdings hatte sie die schmale Brille abgenommen, als bereite sie sich auf die Tränen vor.
»Ich habe von dem Todesfall auf der Mall gehört«, murmelte sie. »Aber ich hätte nie gedacht …« Sie schüttelte den Kopf. »Ich war den ganzen Tag über im Keller.«
Wo es keinen Handyempfang gab, setzte Gray im Stillen hinzu. Painter hatte erwähnt, er habe versucht, Polks Tochter zu erreichen. Dabei war sie die ganze Zeit über in der Nähe gewesen.
»Es tut mir leid, Sie behelligen zu müssen, Elizabeth«, sagte er. »Aber wann haben Sie Ihren Vater zum letzten Mal gesehen?«
Sie schluckte mühsam und rang um Selbstbeherrschung. Ihre Stimme zitterte. »Ich … ich weiß es nicht genau. Vor
etwa einem Jahr. Wir haben uns gestritten. Ach Gott, was habe ich damals alles zu ihm gesagt …« Sie fasste sich an die Stirn. Bedauern und Schmerz lagen in ihrem Blick.
»Ich bin sicher, er hat genau gewusst, dass Sie ihn lieben.«
Sie funkelte ihn an, ihr Blick verhärtete sich. »Danke für Ihr Mitgefühl. Aber Sie haben ihn nicht gekannt, nicht wahr?«
Gray spürte, dass unter dem Gehabe der grauen Büchermaus ein harter Kern verborgen war. Er stellte sich ihrer Verärgerung, denn er war sich bewusst, dass ihr Zorn sich vor allem gegen sie selbst richtete. Kowalski hatte sich an die andere Seite des Raums verzogen und lauschte verlegen der Unterhaltung.
Gray drehte sich halb um und zeigte auf den Schreibtisch. Dort waren neben einer Kladde noch immer die Münzen aufgereiht. »Ich weiß es, weil wir bei Ihrem Vater eine Münze gefunden haben.« Er rief sich in Erinnerung, was Painter ihm darüber erzählt hatte. »Eine Münze mit der Büste Faustina der Älteren auf der einen und dem Tempel von Delphi auf der anderen Seite.«
Ihre Augen weiteten sich. Sie starrte die Lücke an, die einmal die Münze eingenommen hatte.
Gray hob den Arm. »Er war hier, bevor er erschossen wurde. In Ihrem Büro.«
»Das ist nicht mein Büro«, murmelte sie und blickte sich um, als hielte sie Ausschau nach dem Gespenst ihres Vaters. »Ich forsche gerade für meine Dissertation. Mein Vater hat seine Beziehungen spielen lassen und mir eine Doktorandenstelle im Delphi-Museum in Griechenland beschafft. Bis vor einem Monat war ich dort. Ich beaufsichtige die Installation der Ausstellung. Ich glaube nicht, dass mein Vater wusste, dass ich hier bin. Zumal nach unserem …« Sie verstummte und winkte ab.
»Offenbar hatte er ein wachsames Auge auf Sie.«
Jetzt flossen ein paar Tränen und rannen über ihre Wangen. Energisch wischte sie sich das Gesicht mit dem Ärmel des Kittels ab.
Gray ließ ihr einen Moment Zeit. Er sah zu Kowalski hinüber, der wie ein langsam kreisender Mond gelangweilt um den steinernen Omphalos herumstapfte. Gray wusste, dass auch Elizabeths Vater dieser Umlaufbahn gefolgt war. Aber aus welchem Grund?
Elizabeth kleidete die Frage in Worte. »Weshalb ist mein Vater hergekommen? Weshalb hat er die Münze mitgenommen?«
»Das weiß ich nicht. Aber ich bin mir ziemlich sicher, dass Ihr Vater wusste, dass er verfolgt und gejagt wurde.« Er stellte sich vor, wie Polk am Rande der Mall entlanggeschlichen war und nach einer Möglichkeit gesucht hatte, Kontakt mit Sigma aufzunehmen, ohne dass seine Verfolger es mitbekamen. »Vielleicht hat er die Münze für den Fall mitgenommen, dass er ermordet werden sollte. Die Münze war stark verschmutzt, und wenn der Mörder ihn nur flüchtig durchsucht hätte, wäre sie ihm vielleicht gar nicht aufgefallen. Bei der Autopsie aber wäre man in jedem Fall darauf aufmerksam geworden. Ich glaube, er wollte uns an diesen Ort dirigieren. Weil er wusste, dass Sie die Münze als gestohlen melden würden.«
Elizabeths Tränen waren in der Zwischenzeit getrocknet. »Aber was sollte er damit bezweckt haben?«
Gray schloss die Augen und überlegte angestrengt. Er versetzte sich in Polks Lage. »Wenn ich mit der Münze richtig liege, hatte Ihr Vater Sorge, man könnte ihn durchsuchen. Er muss gewusst haben, dass seine Verfolger nach etwas suchten, was sich in seinem Besitz befand …«
Natürlich .
Gray öffnete die Augen und richtete sich auf. Dann zog er
Elizabeth auf die Beine. Sie schaute sich um, doch diesmal hielt sie nicht nach Gespenstern Ausschau. Ihre
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