Signal: Roman (German Edition)
neben ihrem Führer her und beugte sich vor, um seine Aufmerksamkeit zu erregen. »Wie kommt man an konzentrierten Löwenurin? Und ich schwöre Ihnen, Sandmann, wenn Sie mir jetzt was von ›Vorsicht‹ erzählen, zerbreche ich eine dieser Kapseln direkt unter Ihrer Nase.«
Gwi verriet es ihnen. Die Erklärung war für Ingrid durchaus einleuchtend, aber sie war ja schließlich auch Ärztin.
*
Es war so dunkel, dass sie die hockende Gestalt des San vor sich kaum sehen konnte. Bei derartigen Lichtverhältnissen war Whispr dank seines schlanken Körperbaus nahezu unsichtbar. Falls einer von ihnen auf einem Sicherheitsmonitor auftauchte, dann würde das nur ihr eigener, kürzlich manipulierter Körper sein, dachte sie. Aber keine grellen Scheinwerfer wurden eingeschaltet, um sie zu blenden, und keine barschen Stimmen, seien sie menschlich oder magifiziert, hallten durch die Finsternis. Sie hatten die Zugangsluke schon fast erreicht.
»Man hätte uns schon vor einiger Zeit entdecken müssen.« Whispr ging neben ihrem Führer her und staunte, dass man sie noch immer nicht bemerkt hatte. »Ich hätte gedacht, dass die Sicherheitsanlage hier so gut wie unüberwindbar wäre.«
Neben einem Metallzylinder blieben sie stehen. Er war dreimal so groß wie Whispr und sah für Ingrid aus wie ein Schornstein, den man von einem uralten Dampfschiff abgebaut und mitten in die Wüste gestellt hatte. Selbst in der Dunkelheit konnte sie erkennen, dass er bemalt worden war, um sich in die Umgebung einzufügen. In der Ferne waren weiter im Westen einige Lichter zu sehen.
»Hier gibt es so viele Sicherheitsmaßnahmen, wie Sie sich nur vorstellen können.« Gwi zog ein elektronisches Tablet aus seinem Rucksack und hielt es vor ein gedämpft leuchtendes ovales Siegel, das auf Hüfthöhe in die geschwungene Seite des Zylinders eingelassen worden war. Er unterbrach den Vorgang der Codeeingabe nur, um kurz auf seine Uhr zu sehen. »Aber alles in Nerens läuft automatisch und steuert sich selbst. Anders geht es auch nicht. Es gibt keine Verbindung zu einem Außennetz. Erst in mehreren Hundert Kilometern Entfernung befindet sich das nächste Netz, zu dem eine Verbindung hergestellt werden könnte. Also funktioniert jeder Sektor auf seine eigene, einzigartige Weise. Ein Sektor benötigt zwischen zwei und drei Minuten für einen Wechsel der Energiequelle und ist in dieser Zeit inaktiv. Empfang, Flugverkehrsüberwachung, Klimasteuerung, sanitäre Anlagen, selbst die Sicherheit ist davon betroffen. Das passiert immer mitten in der Nacht, damit die Arbeit innerhalb der Anlage und die Mitarbeiter so wenig wie möglich davon betroffen werden.« Seine Finger tanzten über das Tablet, das er festhielt.
Whispr runzelte die Stirn. »Ich hätte gedacht, dass zumindest die Sicherheit diese paar Minuten mithilfe eines Notfallaggregats überbrücken würde.«
»Ja, davon würde man ausgehen. Aber da es noch nie jemandem gelungen ist, in Nerens einzudringen, und da die Sicherheit des äußeren Perimeters als undurchdringlich eingestuft wird, scheint sich die Firma wegen der kurzzeitigen Inaktivität mitten in der Namib und mitten in der Nacht keine Sorgen zu machen. Möglicherweise macht der dazu notwendige Umstieg auf einen Notfallgenerator mehr Arbeit, als ihnen lieb ist. Selbst in einem Dorf wird das, was die an der Spitze anordnen, von ihren Untergebenen nicht immer durchgeführt.« Als er grinste, glänzten seine Zähne in der Dunkelheit.
»Ich breche ständig ein und wieder aus. Dasselbe machen auch einige meiner Kollegen. Wir sprechen unseren nicht genehmigten ›Urlaub‹ untereinander ab, damit nicht mehrere von uns gleichzeitig der Anlage fernbleiben.«
»Und bei der Arbeit vermisst Sie niemand?«, wollte die ungläubige Ingrid wissen.
»Meine Kollegen übernehmen meine Arbeit mit. Das ist Nerens. Die Bewegungen der Besucher, Wissenschaftler, Ingenieure, Sicherheitsleute und Fahrer werden sehr genau überwacht. Niemand achtet jedoch auf die, die sich um den Müll der Anlage kümmern, mit Ausnahme ihrer direkten Kollegen. Es wird erwartet, dass wir einander im Auge behalten. Meine Abteilung gehört nicht zu denen, die man freiwillig gerne besucht.«
Die so gut wie unsichtbare Tür, die in die Seite des Zylinders eingelassen war, summte leise und glitt dann auf. Leuchtstreifen, die an die Innenwände gemalt waren, erhellten eine Wendeltreppe, die nach unten führte. Eine primitive Lösung für ein internes Transportproblem, stellte Ingrid fest.
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