Silber
Erklärung bestand für den Russen darin, dass sie die katholische Kirche in ihren Grundfesten erschüttern wollten. Schließlich war Judas Iskariot ihr Messias, und nicht Jesus Christus. Warum sollte die ganze Welt das Kreuz anbeten und das Blut Christi trinken, wenn dessen Lebensgeschichte eine einzige Lüge war? Wie sollte darin die Erlösung liegen? Dieser Gedankengang war ebenso verführerisch, wie er gefährlich war.
Er spürte sein Telefon in der Tasche vibrieren, zog es heraus und warf einen Blick auf das Display. Lethes Datenpaket war angekommen. Er warf einen Blick auf die Datumsangaben, Uhrzeiten und Orte, und stellte fest, dass es viel mehr davon gab, als ihm lieb war. Es würde ein echter Albtraum werden, den Papst zu beschützen. Auch ohne die Marschroute abgelaufen zu haben, war ihm klar, dass es eindeutig zu viele Versteckmöglichkeiten für Attentäter gab. Mit einem modernen Präzisionsgewehr konnte der Schütze so weit vom Ziel entfernt sein, dass es so gut wie unmöglich war, ihn aufzufinden – selbst, wenn alle anderen Angriffsarten ausgeschlossen wären. Aus diesem Grund würde Konstantin auf keinen Fall seine Zeit damit verschwenden, den Papst zu schützen. Außerdem hatte der auch seine persönlichen Leibwächter, die freudig die Kugeln für ihn fangen würden, um sich ihren Platz im Himmelsreich zu verdienen. Ebenso würde das gesamte Bundeskriminalamt in höchster Alarmbereitschaft sein, sobald der Papst sich in der Öffentlichkeit befand. Nein, Konstantin wollte seine besonderen Fähigkeiten für einen anderen Zweck einsetzen. Um es mit der alten Fußball-Weisheit zu sagen: Angriff ist die beste Verteidigung.
Er würde den Attentäter finden und töten, bevor dieser den Abzug drücken konnte.
Der Zeitrahmen dafür lag zwischen knapp drei Stunden und zwei vollen Tagen, je nachdem, zu welchem Zeitpunkt der Assassine zuschlagen wollte.
Der Zug fuhr weiter. Konstantin war kurz davor, einzudösen. Er ließ sich in einen leichten Schlaf gleiten. Er wusste nicht, wann er das nächste Mal Gelegenheit haben würde, seinem Körper etwas Erholung zu gönnen.
Konstantin träumte auf Russisch. In seinem Traum war Mabus eine Schlange, die mit ihrer gespaltenen Zunge in der Dunkelheit zischelte. Er hatte seine Glock in der Hand, aber er konnte nicht sehen, wohin er zielen sollte. Da glitt die Schlange plötzlich aus der Finsternis. Er betätigte wieder und wieder den Abzug seiner Pistole, als die Schlange sich in seine Richtung wand. Er schoss zehn, zwanzig, fünfzig, hundert Kugeln in ihre kalte Haut. Er war ein Schlangenbeschwörer, sie richtete sich vor ihm auf. Dann ließ das große Reptil seinen Kopf nach vorn schnellen, um ihn zu beißen. Er schoss und schoss und schoss wieder.
Er schreckte aus dem Traum auf. Sein Oberkörper war nach vorn aus dem Sitz gesunken.
Der ICE fuhr in eine Stadt ein, die aussah wie eine mittelalterliche Märchenstadt.
Der Zugchef sagte den nächsten Halt durch, es war nicht Koblenz. Konstantin schloss wieder die Augen. Diesmal gestattete er sich nicht, einzunicken. Er stellte fest, dass er hungrig war. Er konnte sich kaum noch daran erinnern, wann er das letzte Mal etwas gegessen hatte. Er ging durch den Zug zum Bistro und bestellte sich dort einen viel zu heißen, schwarzen Kaffee, ein Stück Mikrowellenpizza in einer Schachtel mit silbernem Boden, eine Zimtschnecke, von der eine weiße Glasur herabtroff, und einen Schokoriegel. All das bestand fast ausschließlich aus Zucker; es war ein schneller, wenn auch minderwertiger Energieschub. Aber ihm war nicht nach dem Bordrestaurant mit seiner förmlichen Bedienung und dem silbernen Besteck, und das wäre die einzige Alternative gewesen. Also gab er sich mit dem zufrieden, was er hatte.
Er machte sich auf den Rückweg zu seinem Abteil. Jedesmal, wenn der Zug eine der langgestreckten Kurven entlangfuhr, lehnte er sich auf den Gängen in die entgegengesetzte Richtung, bis er wieder bei seinem Platz angekommen war. Er nippte an seinem Kaffee. Er aß das Pizzastück mit sechs Bissen auf und kaute nur wenig, bevor er schluckte, so hungrig war er. Dann leckte er die Käsefäden ab, die sich von seinen Fingerspitzen zogen.
Wenn er auf die russische Art dachte, war es durchaus sinnvoll, dass die Jünger von Judas den „Papa“ der katholischen Kirche tot sehen wollten. Es war ein sehr gewagter Zug, aber er kam einem Stich in das Herz des vermeintlich falschen Messias gleich. Und er folgte den Regeln von Moskau: schlage
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