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Silber

Titel: Silber Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Steven Savile
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schnell und hart zu, und hinterlasse die Menschen zu Tode verängstigt. Es war im Prinzip dasselbe, wie nachts um vier eine Tür einzutreten und jemanden nackt aus dem Bett zu zerren, der verzweifelt um sich schlug, schrie und – das war das Wichtigste – völlig hilflos war. Doch darüber hinaus machten sie unter den Augen der ganzen Welt aus der Ermordung eines Mannes ein gewaltiges Schauspiel.
    Der Schaffner kündigte die baldige Ankunft in Koblenz Hauptbahnhof an.
    Konstantin wickelte die Zimtschnecke in die dazu gereichte Serviette ein, stopfte sie zusammen mit dem Schokoriegel in seine Jackentasche und ging zur Tür.
    Er stieg aus dem Zug aus und trat direkt in das Set einer der makaberen Moralgeschichten aus dem Repertoire der Gebrüder Grimm. Dieser Vergleich erschien ihm durchaus passend: die Gebäude hier sahen aus wie Lebkuchenhäuser, und die Straßen zwischen ihnen waren schmal und mit Kopfsteinen gepflastert. In der Mitte des Bahnsteigs stand eine Gruppe Polizisten. Automatisch griff Konstantin in die Jackentasche, um seine Papiere hervorzuholen; eine tief verwurzelte Angst diktierte ihm diese Bewegung. Es dauerte einen Moment, bis ihm einfiel, dass er nicht in Moskau war und diese Männer nicht nach Verrätern an der Sache des sowjetischen Staates suchten. Den Polizisten hier war egal, dass er übergelaufen war, doch er selbst konnte nur schwer vergessen, dass er genau das getan hatte. Er schritt auf das Bahnhofsgebäude zu; nicht zu schnell und nicht zu langsam. Einer der Polizisten nickte ihm kurz zu, als er an ihm vorbeiging. Konstantin neigte fast unmerklich den Kopf.
    Die Luft im Gebäude roch typisch für einen Bahnhof: es war eine Mischung aus Blumenduft, dem Fett der Imbissbuden, den Abgasen von Dieselmotoren und dem Geruch der Verzweiflung eines Ortes, an dem Menschen sich fortwährend voneinander verabschiedeten.
    Er sah insgesamt zehn uniformierte Polizisten, die sich auf den Bahnsteigen und beim Haupteingang postiert hatten. In den wenigen Minuten, die er brauchte, um sich einen kochend heißen Kaffee zu kaufen – dessen Pappbecher so dünn war, dass er sich die Finger daran verbrannte –, sich auf eine Bank zu setzen und ihn zu trinken, kontrollierten die Polizisten nicht einen einzigen der Reisenden. Er wusste nicht, wonach sie suchten, aber offenbar fanden sie es nicht im Gesicht eines Geschäftsmannes mit Glatze, oder dem eines Skinheads mit einem ausgewaschenen
The Clash
-T-Shirt, oder dem einer Frau mit Stöckelschuhen und einem hochgeschlitzten Rock, deren wohlgeformte Waden im Vorbeigehen alle Männerblicke auf sich zogen. Sie fanden es nicht im Gesicht des bärtigen Mannes, der eine Tweedjacke mit abgewetzten Ellenbogen trug, oder dem des schlaksigen Studenten, der eine Sonnenbrille auf der Nase trug und schwarzgefärbte, schulterlange Haare hatte.
    Er holte die zerdrückte Zimtschnecke aus seiner Tasche und wickelte sie aus der Serviette. Der Zuckerguss blieb an dem Zellstoff kleben, das Gewebe klebte an der Schnecke, und als er versuchte, beides voneinander zu trennen, blieb die ganze pappige Masse an seinen Fingern hängen. Konstantin aß die Stücke der Schnecke langsam und genüsslich. Ein Landstreicher kam auf ihn zu und setzte sich neben ihn auf die Bank. Er roch, als ob er schon seit einem Monat nicht mehr gebadet hätte; es war ein säuerlicher Gestank, der in Konstantins Kehle kroch und ihn fast zum Würgen brachte. Konstantin zog den Schokoriegel aus seiner Tasche und bot ihn dem Mann an, der ihn sofort ergriff, aus der Folie wickelte und sich dann hungrig darüber hermachte. Tauben versammelten sich zu ihren Füßen, eine davon sprang neben dem Landstreicher auf die Bank. Eine Frau kam auf ihre Bank zu und setzte sich ans andere Ende, dort entfaltete sie eine Zeitung und begann, darin zu lesen. Der Landstreicher breitete die Arme aus, um die Vögel zu verscheuchen, erreichte damit aber nur das Gegenteil. Zusammen sahen sie fast wie eine besonders kuriose Darstellung des Letzten Abendmahls aus: Jesus, Maria, Judas, und die Vögel.
    Konstantin trank seinen Kaffee aus und warf die klebrige Serviette in den Mülleimer.
    Die Polizisten beobachteten ihn aufmerksam, als er auf sie zuging. Sie standen neben den Schaukästen mit den Fahrplänen und Stadtkarten darin.
    Sie hielten ihn nicht auf.
    Er zog sein Handy aus der Innentasche. Auf dem fünf mal fünf Zentimeter großen Display reichte die Karte mit der päpstlichen Route gerade dazu aus, um sie mit der Stadtkarte zu

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