Silber
steckte. Die Absperrungen zogen sich über die ganze Länge der Flussstraße entlang. Einige Schaulustige hatten bereits direkt dahinter Posten bezogen, wie bei einem großen, ausverkauften Popkonzert. Sie hatten Picknickkörbe und kleine, dreibeinige Falthocker dabei. Es gefiel ihm, als er sah, wie ein Vater eine Tafel Schokolade in vier gleich große Stücke brach und je eines seiner Frau und seinen beiden Kindern gab.
„Hat es irgendwelche Schwierigkeiten gegeben?“
Der Verkäufer schmunzelte immer noch. „Hier? Glauben Sie mir, hier lungert nur jemand an einer Straßenecke herum, wenn die Ampel gerade rot zeigt.“
Konstantin lächelte darüber. Die meisten Menschen waren der Überzeugung, dass ihnen in ihrer eigenen Heimatstadt keinerlei Gefahr drohen konnte, oder zumindest so gut wie nie – wenn er sich allerdings so umsah, war er fast geneigt, dem Kioskbesitzer zu glauben. Die Stadt hatte ein Industriegebiet, unter den Arbeitern dort gab es vielleicht manchmal Streit. Wenn man die angespannten wirtschaftlichen Verhältnisse in Europa mit einrechnete, kam es durch diese Meinungsverschiedenheiten vielleicht zu einer gelegentlichen Schlägerei am Freitagabend. Der Tagzwilling der Märchenstadt sah nicht so aus, als ob es hier besonders viele Fälle von Einbrüchen, Autodiebstählen oder anderen asozialen Verbrechen geben würde. Er hatte so gut wie gar keine Graffiti an den Wänden gesehen, nicht einmal in den Unterführungen oder auf der kleinen Mauer, die den Fußgängerweg vom Flusslauf trennte. Wobei das natürlich auch nur darauf hindeuten konnte, dass für den päpstlichen Besuch umfassende Stadtreinigungsarbeiten durchgeführt worden waren.
Doch so idyllisch dieses Städtchen auf den ersten Blick auch aussehen mochte, hinter seinen geschnitzten Fensterläden konnten sich die schlimmsten Gemeinheiten abspielen, ohne dass er jemals etwas davon erfahren würde. Konstantin sprang über die metallene Absperrung und ging auf der Mitte der Straße entlang. Er wollte die Strecke dreimal entlanggehen, bevor das Papamobil den Papst bis zu den Stufen der Florinskirche fahren würde.
Im Gegensatz zu dem, was Lethe gesagt hatte, gab es entlang der ganzen Uferstrecke fast keine Position, die einen guten, sauberen Schuss ermöglicht hätte. Er ging zur Ufermauer hinüber und blickte über das Wasser zur Festung hinauf. Wenn der Schütze sich dort oben befand, dann hatte er praktisch keine Aussicht auf Erfolg. Aus taktischen Überlegungen war es ein guter Standort. Das Fahrzeug des Papstes war ein speziell umgebauter Mercedes-Benz-Geländewagen der M-Klasse, eine Glaskanzel war über dem Heck aufgebaut worden. Die Scheiben waren selbstverständlich kugelsicher und das Dach schwer gepanzert. Um das Glas zu durchschlagen, musste der Schütze gut genug sein, um mit drei Schüssen ein so kleines Dreieck treffen zu können, dass sich die Einschüsse fast überschnitten. Ein gut ausgebildeter Scharfschütze konnte das unter den richtigen Bedingungen schaffen, doch dann kamen Aspekte wie die Entfernung, die ballistische Flugbahn, die Windstärke, die Geschwindigkeit des Zielobjekts, das Reaktionsvermögen der Sicherheitskräfte und all die anderen Unberechenbarkeiten hinzu, von denen der Schütze nichts wissen konnte, bevor er nicht den ersten Schuss abgegeben hatte.
Es war zwar sinnvoller, dann zu schießen, wenn der Heilige Vater gerade in das kugelsichere Auto stieg oder er es wieder verließ, doch das würde natürlich längst nicht so spektakulär aussehen. Einen paranoiden Moment lang überlegte er, ob sich jemand an den Scheiben zu schaffen gemacht haben könnte, um sie für den Durchschuss zu präparieren. Die Leibwächter gingen davon aus, dass das Glas den Papst vor Kugeln schützen würde. Sie rechneten nicht damit, dass es sie verraten könnte.
Konstantin griff nach seinem Handy und rief Lethe an. „Zwei Dinge“, sagte er, noch bevor Lethe nur sein ‚Hallo‘ beendet hatte. „Erstens, bring die Sicherheitsleute dazu, die Glaskanzel des Paradewagens nochmal genauestens zu überprüfen. Zweitens, überprüfe alle Gas-, Wasser- und Stromrechnungen in einem Radius von zwei Kilometern um die Paraderoute. Ich glaube, der Schütze hat sich vor etwa zehn Tagen sein Plätzchen gesucht. Er könnte ein stahlharter Profi sein, der Entbehrungen gewohnt ist, aber andererseits waren ihre Leute in Berlin ein absoluter Witz. Das heißt, es ist unwahrscheinlich – aber möglich –, dass dieser Kerl einen
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