Silber
Stiefel hinunter.
Er war zu weit entfernt, um sehen zu können, ob einer von ihnen übermäßig stark schwitzte. Aber einerseits hatten sie das Gewicht der Hellebarden und ihrer bunt leuchtenden Paradeuniformen zu tragen, andererseits war das Bundeskriminalamt vielleicht auch in Aktion getreten und hatte sie gewarnt, dass sich ein Attentäter in der Menge befand – deshalb konnte man wohl getrost davon ausgehen, dass sie alle mehr als gewöhnlich schwitzten.
Konstantin fand es äußerst merkwürdig, dass so viele Menschen ihren ganzen Glauben auf einen alten Mann richten konnten, der ihre Sprache nicht sprach und auch sonst keine reellen Möglichkeiten hatte, einen Bezug zu ihrem Leben herzustellen. Menschen jeden Geschlechts und Alters befanden sich in der Menge und warteten auf den Einmarsch der Kavalkade.
Konstantin schob sich zwischen ihnen hindurch. Es mussten auch Zivilbeamte hier sein. Wenn Sir Charles seinen alten Gefallen hatte einfordern können, dann hätte es auf dem Platz von Beamten des BKAs eigentlich nur so wimmeln müssen. Er sah Motorradfahrer in ihrer Lederkluft und Mütter mit Sommerkleidern, die über ihre Kinderwägen gebeugt waren; er sah kleine Jungs in Trikots der deutschen Fußballnationalmannschaft, und er sah die kleine Gruppe derjenigen, die verzweifelt auf das Wunder hofften, dass ihre Kinder sich aus ihren Rollstühlen erheben und gehen würden, wenn der Papst sie berührte. Er sah niemanden, der offenkundig der Polizei angehörte. Er sah niemanden, der über die Maßen nervös wirkte. Er sah niemanden, der sich so schwerfällig bewegte, als ob er getrunken oder gekifft hätte. Das war noch so eine Sache: wenn ein Mann im Begriff war, Selbstmord zu begehen – egal, wie ergeben er seiner Sache auch war –, dann wollte er keine Zweifel mehr zulassen. Es kam häufig genug vor, dass Selbstmordattentäter in ihren letzten Minuten auf Erden unter dem Einfluss irgendeines Betäubungsmittels standen. Er blickte wieder zu den Gardisten auf und vor der Bühne. Er konnte beim besten Willen nichts Auffälliges in ihren Gesichtern entdecken. Keiner von ihnen wirkte nervöser oder weniger geistesgegenwärtig als seine Kameraden.
Konstantin drängelte sich zwischen den Menschen hindurch, er versuchte, dichter an die Bühne heranzukommen. Er wollte direkt davor stehen, wenn der Schuss aus dem Scharfschützengewehr abgefeuert wurde. Er blickte nach oben, zu den anderen Bäumen auf und vor dem Platz. In allen hingen kleine Futterhäuschen, und in jedem der Bäume saßen unzählige Vögel. Er konnte nicht sagen, ob es noch mehr Gewehre gab, oder ob sie sich auf den Domino-Effekt verließen, nachdem sich die Panik der aufgeschreckten Vögel von einem Baum zum nächsten übertragen würde.
Von der Straße hörte er Stimmen, die Kirchenlieder sangen. Irgendetwas hatten diese Loblieder an sich, das auch die Stimmen der schlechtesten Sänger wunderschön klingen ließ, wenn sie sich nur zum Chor vereinten.
Das Murmeln um ihn herum wurde lauter, als ein Wagen langsam die Mitte der Straße entlangfuhr und dann auf den Platz einbog. Es war ein schwarzer BMW, bei dem sämtliche Scheiben dunkel getönt waren. Es war der Wegbereiter. Konstantin sah den Wagen näherkommen und überlegte, wie er sich den Beamten darin zu erkennen geben konnte. Doch der Wagen fuhr mit unverminderter Geschwindigkeit an ihm vorbei, folgte der Kurve der Absperrungen und verschwand hinter der Kirche aus seiner Sicht.
Zwei weitere schwarze Limousinen folgten ihm wenige Minuten später.
Dann kam ein vierter BMW. Das Sonnenlicht glänzte auf den geschwärzten Scheiben. Vier Beamte liefen daneben her. Sie hielten Schritt mit dem Wagen und ließen ihre Blicke unaufhörlich durch die Menschenmenge wandern. Sie waren alarmbereit. Sie wussten, dass Gefahr drohte. Der Alte hatte seinen Teil getan, die Warnung hatte das BKA erreicht. Mehr konnte er von Nonesuch aus auch nicht tun; alles Weitere lag an Konstantin. Die Bewegungen der Schutzmänner waren aufeinander abgestimmt. Wenn einer von ihnen nach links blickte, sah der andere nach rechts, damit konnten sie zusammen das ganze Panorama abdecken, ohne dass tote Winkel entstanden. Sie bewegten sich mit geschmeidiger Kraft, aber Konstantin konnte ihren Körpern auch die Anspannung ansehen. Sie waren scharf und warteten auf das geringste Geräusch oder die kleinste plötzliche Bewegung; irgendetwas, das nicht ins Bild passte. Sie waren dazu ausgebildet worden, die Menschen lesen zu können
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