Silber
Christus stammen, vielleicht sogar erst aus dem Jahr 100 nach Christus. Auch im Markusevangelium, das als das älteste der Evangelien galt, wurde die Plünderung des Tempels von Jerusalem erwähnt, womit es wiederum frühestens aus dem Jahr 70 nach Christi Geburt stammen konnte. Das Zeugnis von Menachem ben Ja’ir dagegen musste vor dem Massenselbstmord der Sikarier im Jahr 73 nach Christus geschrieben worden sein, es konnte nicht aus der Zeit nach diesem Ereignis stammen. Die Sikarier hatten ihre Hochphase während des Jüdischen Krieges gehabt, von der Plünderung des Tempels im Jahr 70 bis zu ihrem kollektiven Selbstmord in Masada. Das Zeugnis war mit hoher Wahrscheinlichkeit das Dokument Null, die erste schriftliche Aufzeichnung über den Tod Judas Iskariots. Im Gegensatz zu den Evangelien wurde Judas darin als ein tragischer Held beschrieben, der das größte aller Opfer gebracht hatte. Die Evangelien existierten natürlich auch aus einem ganz anderen Grund: Sie versuchten, die Figur Jesus Christus‘ zu vergöttlichen, und ihn als den Sohn Gottes über alle anderen Menschen zu stellen.
Der Christus in Menachem ben Ja’irs Zeugnis war weit von der Göttlichkeit entfernt. Hier war er als ein normaler Mensch dargestellt, der normale, menschliche Fehler hatte. Und ben Ja’ir behauptete nicht, dass Judas Iskariot der Sohn Gottes gewesen wäre, ganz und gar nicht. Auch Judas war in dieser Version der Geschichte ein ganz normaler Mensch. Das Zeugnis berichtete von Liebe, Freundschaft und Opferbereitschaft. Und es war Judas, der Großvater von Menachem ben Ja’ir, der dieses Selbstopfer gebracht hatte – wohlwissend, was das für seine junge Familie bedeuten würde, aber ohne zu begreifen, wie sehr seine Geschichte im Lauf der kommenden Jahre verzerrt werden würde. Doch wie hätte er das auch vorhersehen sollen? Selbst Menachem ben Ja’ir wäre dazu nicht in der Lage gewesen, sie hatten fast zur selben Zeit gelebt. Wenn man dieses Dokument jedoch heute übersetzte, ließ es sich kaum vermeiden, dass es dabei durch das moderne Verständnis der damaligen Zeit gefiltert wurde, und dass diese Auffassung in die Interpretation des Textes mit einfloss.
Die eigentlichen Evangelisten wollten von diesem Verlauf der Dinge nichts wissen. Der Grund dafür war nicht nur, dass er ihren eigenen Schriften widersprach, sondern auch weil die Andeutung, dass Judas Iskariot nicht durch Selbstmord, sondern durch Mord zu Tode gekommen war, noch einige andere Dinge in Zweifel stellte. Judas wäre demnach nicht bis in alle Ewigkeit verdammt, sondern ein gütiger und erhabener Mann gewesen. Und was würde das für Matthäus bedeuten, der den Strick gehalten hatte? Oder für Markus, Lukas und die anderen, die die Steine geworfen hatten? Was würde mit ihren unsterblichen Seelen geschehen, wenn sie keine Heiligen mehr waren, die der Welt die Lehren Jesu Christi nahebrachten, sondern stattdessen nur eine Bande gedungener Mörder? Wie war es dann in Wahrheit um ihre göttliche Glorie bestellt?
Diese Fragen hatten alles unterminiert, woran man Abandonato zu glauben gelehrt hatte.
Salomons Worte waren sehr einfühlsam gewesen. Er hatte ihn immer wieder gefragt, was die wahre Bestimmung des Messias sei. Immer wieder hatte er von der Blutlinie König Davids und der Wiedererrichtung des Staates Israel gesprochen. Doch er hatte keinen Krieg verkündet. Es war eine Botschaft des Friedens gewesen. Er wollte in der Welt einen Platz schaffen für ein Volk, das schon seit zweieinhalbtausend Jahren schwerstes Leid erdulden musste. Und jedesmal, wenn er darüber gesprochen hatte, hatte er für einen Großteil dieses Elends Rom verantwortlich gemacht.
Es waren die Römer gewesen, die sein Land jahrzehntelang besetzt gehalten hatten, und es waren die Römer gewesen, die nach dem Bar-Kochba-Aufstand über eine halbe Million Juden getötet, fünfzig befestigte Städte zerstört und neunhundertfünfundachtzig Dörfer ausgelöscht hatten. Es war ein Gemetzel gewesen, das nur aus dem Grund stattgefunden hatte, weil Kaiser Hadrian das Judentum vollständig vernichten wollte. Wieder einmal waren scheußliche Verbrechen im Namen der Religion begangen worden. Kaiser Hadrian hatte das Studium der Tora verboten, den hebräischen Kalender geächtet und systematisch Jagd auf die jüdischen Gelehrten gemacht. Aber damit hatte er sich noch nicht zufriedengegeben. Hadrian wollte den Namen Judäas selbst aus den Köpfen der Menschen tilgen. Dafür ließ er ihn zuerst
Weitere Kostenlose Bücher