Silber
Garten Eden eine Schlange gab. Er wusste zwar nicht, ob das am Ausgang des Geschehens etwas verändern würde, aber er musste es zumindest versuchen. Wenn sie dennoch in den Apfel bissen, konnte er wenigstens sagen, dass er versucht hatte, sie zu warnen.
Jeden Tag, an dem nichts passierte, wurde Noahs Angst vor dem Tag größer, an dem schließlich etwas passieren würde. Das war die Grundregel des Terrorismus. Er hatte es selbst schon hundert Mal gesagt:
Wenn ein Anschlag angedroht wird, muss er auch ausgeführt werden
. Sobald man dieses Versprechen brach, nahm die Angst der Öffentlichkeit vor jeder weiteren Drohung immer weiter ab. Es war wie mit dem Jungen, der immer „Wolf!“ schrie, oder dem Jungen, der immerzu „Bombe!“ rief. Die Selbstmörder hatten vierzig Tage und vierzig Nächte des Terrors versprochen. Sie hatten angenommen, dass es sich dabei um vierzig unterschiedliche Angriffe in ganz Europa handeln würde, aber was konnten sie nach Berlin, Rom und der Ermordung des Papstes noch tun? Wie konnten sie die Angst und den Schrecken noch steigern? Denn so zeigten die terroristischen Attacken am meisten Wirkung: mit ansteigender Angst. Wenn man nur ein Bürogebäude in die Luft sprengte, nachdem man schon eine ganze Stadt auf abscheuliche Weise vergiftet hatte, ließ die Furcht der Menschen nach. Es hinterließ keinen großen Eindruck mehr. Es machte die Angst zu einer Banalität.
Und die Bewohner Roms hatten sich tatsächlich schon vom schlimmsten Schrecken erholt, als ob die Zeit des Rampenlichts nun wieder vorbei wäre. Ihre Stadt hatte überlebt. Sie hatten Verluste erlitten, furchtbare Verluste, aber sie hatten es überstanden. Jetzt war eine andere Stadt an der Reihe. Sie hatten schon genug gelitten.
Wenn er eine Figur aus der unheiligen Dreifaltigkeit gewesen wäre – Mabus, Akim Caspi oder Miles Devere – hätte er sie für diese Annahme hart bestraft. Er hätte Rom erneut angegriffen, nur um zu zeigen, dass die Römer noch nicht genug gelitten hatten.
Er
würde ihnen sagen, wann es so weit war, und nicht anders herum.
Noah dachte über die Nachricht nach, die er in den Taschen des „Selbstmordbombers“ gefunden hatte:
Wir haben euren Glauben auf die Probe gestellt
.
Heute werden wir ihn brechen
. Alle Nachrichten der Sikarier waren rätselhaft gewesen, sie waren ebenso vage wie die Prophezeiungen, aber sie hatten alle auf den Glauben Bezug genommen, auf die Kirche. Bisher hatten sich nur zwei Anschläge in zwei Ländern ereignet: in Italien, dem Heimatland der katholischen Kirche, und in Deutschland, dem Land, in dem der Papst gerade auf Audienzreise gewesen war. Die riesige Menschenmenge vor dem Petersdom bewies, dass die Ermordung eines Mannes nicht ausreichte, um eine Weltreligion zu vernichten. Sie strömten auf den Platz, um ihre Liebe zu zeigen, und um den Terroristen zu zeigen, dass ihr Glaube ungebrochen und stark war.
Alles deutete darauf hin, dass noch etwas anderes kommen musste.
Etwas, dass diesen standhaften Glauben in seinen Grundfesten erschüttern würde.
Etwas, das die Menschen dazu bringen würde, dieselbe Frage zu stellen wie ihr Messias: Mein Gott, mein Gott, warum hast du mich verlassen?
Und Abandonato war der Schlüssel zu all dem.
Er kannte die Wahrheit.
Es musste so sein.
Und der verdammte Kerl war nirgends zu finden.
Gianni Abandonato wollte nicht sterben.
Er wollte nicht zum Märtyrer für die Wahrheit werden.
Zu Beginn hatte er noch so inbrünstig an ihre Sache geglaubt, dass er nicht nur den Plan gebilligt, sondern dass er sich sogar selbst bereit erklärt hatte, auf den Petersplatz zu treten und dort zu verbrennen. Aber mittlerweile hatte sich das geändert. Es war nicht so, dass er nicht mehr glaubte. Es war nicht so, dass er die Kirche nicht mehr in Frage stellte. Salomon hatte ihn gefunden und ihn mit der Wahrheit des Zeugnisses an sich gebunden. Er selbst hatte die erste Übersetzung davon angefertigt. Niemand sonst wusste, was sich da in ihrem Besitz befand:
Das Zeugnis des Menachem ben Ja’ir
, verfasst vom Begründer der Assassinengilde der Sikarier, dem Enkel Judas Iskariots, dem ersten fundamentalen Terroristen der Welt. Es gab mit hoher Sicherheit kein anderes Dokument aus erster Hand, das die Begebenheiten im Garten von Gethsemani verlässlicher beschrieb als dieses.
Das Matthäusevangelium war auf Griechisch verfasst worden, nicht auf Hebräisch oder Aramäisch, deshalb musste es aus der Zeit nach dem Fall Jerusalems im Jahr 70 nach
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