Silber
zu lassen – aber im Vatikanischen Archiv? Noah hatte es zwar nicht zu sehen bekommen, doch Neri hatte ihm erzählt, dass manche der Schriften dort so empfindlich waren, dass sie in hermetisch versiegelten Räumen gelagert wurden – in einem feuchtigkeitsgesteuerten Klima mit niedrigem Sauerstoffgehalt und geringem Luftdruck. Es handelte sich hier nicht um Regalbücher, die man vor den Renovierungsarbeiten schnell in einen Karton stapeln und dann in die Ecke stellen konnte.
Das hatte ihn dazu gebracht, noch angestrengter nachzudenken.
Erst mit Neris Hilfe hatte er seinen Verdacht bestätigen können. Der Carabiniere hatte sich mit der Führung der Vatikan-Polizei in Verbindung gesetzt, obwohl ihnen fast von vornherein klar gewesen war, welche Antworten man ihnen dort geben würde. Sie hatten drei Antworten auf drei Fragen erhalten: Abandonato war seit neun Tagen nicht mehr in seiner Wohnung gewesen, er war seit seinem Treffen mit Noah nicht mehr zur Arbeit erschienen, und schließlich: Nick Simmonds Gesuch um die Praktikantenstelle war von Monsignore Gianni Abandonato abgesegnet worden.
Sie arbeiteten eng zusammen, der Meister und sein Schüler. Er wusste nicht, wer von beiden wen rekrutiert hatte. Aber an dem einen Vormittag, den er mit Abandonato verbracht hatte, hatte dieser so viele gotteslästerliche Dinge gesagt wie ein durchschnittlicher Katholik in seinem ganzen Leben nicht.
Er hätte es sofort durchschauen müssen. Die Lösung war genau vor seiner Nase gewesen. Der Priester hatte allzu viel Verständnis gezeigt. Manchmal war Schweigen ein größerer Schuldbeweis als Reden. Er versuchte, sich an all das zu erinnern, was Abandonato ihm erzählt hatte, doch er schaffte es nicht. In seinem Kopf war es zu einem Gewirr aus biblischen und prophetischen Geschichten geworden. Der Priester hatte von vielen Prophezeiungen und mehreren Antichristen gesprochen, das schien der Hauptinhalt gewesen zu sein – und die Tatsache, dass in jeder Generation mindestens einmal daran geglaubt wurde, dass der Untergang des Abendlands unmittelbar bevorstünde.
Er hatte sich wieder die Unterstützung von Neri geholt, als er den Monsignore auf die altmodische Art zu finden versuchte, bei der man persönlich an Wohnungstüren klopfte. Wenn er sich nicht im Vatikan aufhielt, musste er sich schließlich irgendwo außerhalb davon befinden. Doch die Suche hatte sich als ein nahezu aussichtsloses Unterfangen herausgestellt. Rom war eine riesige Stadt, und sie war voll mit trauernden Pilgern, die von ihrem Heiligen Vater Abschied nehmen wollten. Wenn Abandonato ein zwei Meter großer, rosaroter Elefant in einem Tutu gewesen wäre, wäre er den Leuten vielleicht aufgefallen. Ein Geistlicher in seiner Amtstracht war in Rom jedoch so gut wie unsichtbar.
Im Gegenzug für seine Hilfe hatte Neri von Noah ein Foto von der Ermordung des Papstes erhalten. Lethe hatte es ihm auf sein Handy geschickt, mit der Bitte, es an die Führung der Vatikan-Polizei weiterzuleiten. Es gab einen Verräter in der Schweizergarde, und sein Gesicht war auf dem Bild rot eingekreist, damit niemand ihn verwechseln konnte. Neri vertraute Noah. Noah wusste das. Der Carabiniere hatte dieselben Bilder in den Nachrichten gesehen, wie alle anderen auch, aber er hatte Übung darin, auch einen Blick hinter den schillernden Schein zu werfen. Er akzeptierte die Tatsache, dass die drei Fernsehkameras von ihren Positionen aus den Augenblick nicht hatten festhalten können, in dem der Dolch sein Ziel traf. Und während alle anderen fast blind ihren Augen vertrauten, war Neri bereit, das Gesehene in Frage zu stellen.
Noah wusste, dass Neri das Foto an die zuständigen Behörden weitergeleitet hatte, aber er hatte keine Ahnung, ob die Gendarmerie nur auf seinen Verdacht hin in Aktion treten würde – denn wenn die Mauern des Vatikans eines konnten, dann war es das Wahren von Geheimnissen. Und es gehörte gar nicht zu den Aufgaben der Gendarmerie, für die Sicherheit des Papstes zu sorgen; das fiel in den Zuständigkeitsbereich der Schweizergarde. Es lag jedoch durchaus in ihrem eigenen Aufgabengebiet, verbrecherische Aktivitäten zu verfolgen. Er konnte nur hoffen, dass sie ihren Job gut machten, ihr blindes Vertrauen in die Güte der Menschheit ablegten und polizeiliche Untersuchungen anstellten. Solange das nicht geschah, konnte die Ratte sich frei in den heiligen Hallen bewegen.
Für Noah fühlte es sich fast so an, als ob er Adam davon überzeugen müsste, dass es im
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