Silber
jeden Moment die Hölle losbrechen würde, dann gab es niemanden, an den man sich wenden konnte. Nicht, dass er der Typ gewesen wäre, der andere Menschen gern um Hilfe bat.
Noah war ein Krieger der alten Schule, ein einsamer Wolf, und kein Teamspieler, wie Frost einer war. In seiner Dienstzeit als Soldat hatte er oft die Missionen ausgeführt, über die es zwar keine offiziellen Verlautbarungen gab, von denen aber dennoch jeder wusste, dass sie existierten. Offiziell war er ein Scharfschütze gewesen. Das war ein besseres Wort für Heckenschütze, was wiederum ein besseres Wort für Attentäter war. Er hatte die Leute aus dem Weg geräumt, die die Regierung tot sehen wollte. Er hatte sich nie damit gerechtfertigt, dass er nur seine Befehle befolgte. Das hätte er zwar tun können, aber Noah glaubte an das, was er tat. Manchmal fragte er sich, wie viel Leid der Welt erspart geblieben wäre, wenn man ihn damals auf bin Laden angesetzt hätte, als der noch Usama und nicht Osama hieß, und noch nicht das Gesicht des globalen Terrorismus war. Oder auf Saddam Hussein. Er wusste natürlich, dass es nicht ganz so einfach gewesen wäre.
Damals war Usama noch ihr bester Freund im Kampf gegen die Sowjetunion gewesen, ihren gemeinsamen Feind. Er war eine der größten Respektspersonen der
Mudschahiddin
; ein regionaler Warlord, der spektakuläre Angriffe auf die Rote Armee ausführte. Der Westen wollte die Russen aus Afghanistan vertreiben, und der Preis dafür war, mit Männern wie Usama am selben Strang zu ziehen. Man ließ sich für das Höhere Ziel darauf ein, hatte es gehießen. Noah glaubte an das Höhere Ziel. Das Höhere Ziel wäre erreicht worden, wenn jemand bin Laden häppchenweise an seine Bergziegen verfüttert hätte. Das Höhere Ziel wäre auch erreicht worden, wenn man sich direkt nach dem Ersten Golfkrieg um Familie Hussein gekümmert hätte, als bekannt wurde, wie deren Herrschaft im Irak wirklich aussah. Doch die kalte, harte Wahrheit war, dass das Höhere Ziel in der Realität so gut wie nie erreicht wurde. Die Gründe dafür waren meistens, dass die Menschen zu viel Angst hatten, oder dass ihnen die Hände gebunden waren. In letzterem Fall wurde er auf den Plan gerufen. Er trug jetzt zwar eine andere Uniform als damals und musste vor niemandem mehr salutieren, aber seine neuen Kampfeinsätze unterschieden sich nur geringfügig von seinen alten.
Er würde nur eine Kugel brauchen. Um sie abfeuern zu können, musste er jedoch zuerst Abandonato finden.
Als er nach der Verfolgungsjagd vor neun Tagen den Priester am Peters-dom gesucht hatte, hatte er sich noch fast Sorgen um ihn gemacht. Sein erster Gedanke war gewesen, dass er entführt worden war, dass einer von Mabus‘ Leuten ihn sich geschnappt hatte, während Noah den Assassinen in einem lustigen Tänzchen quer durch Rom verfolgt hatte, bis zurück zum Petersdom, wo der Mann Selbstmord begangen hatte.
Es hatte eine Zeit lang gedauert, bis ihm die Wahrheit klar geworden war.
Er hätte es eher begreifen müssen, aber manchmal war er nicht der schnellste Denker. Das war in seiner beruflichen Karriere nie ein entscheidender Faktor gewesen. Er tat das, was man ihm sagte. Das implizierte, dass jemand ihm sagen musste, was er tun sollte – und oft genug auch, was er denken sollte.
Schließlich hatte er begonnen, selbst nachzudenken. Nick Simmonds musste einen Verbündeten innerhalb des Vatikans gehabt haben. Als einfacher Praktikant hätte er niemals Zugang zu den Gewölben der Bibliothek oder zu den richtigen Texten erhalten, ganz egal, wie dringend die Bibliothekare bei ihrer Arbeit Unterstützung benötigten. Dafür gab es dort unten zu viele Geheimnisse, die auch weiterhin geheim bleiben sollten. Das hatte Abandonato selbst fast wörtlich so gesagt. Aber wie die meisten Leute, die sich nicht anmerken lassen wollten, dass sie etwas zu verbergen hatten, hatte er sich selbst abgesichert. Simmonds hatte jemanden gebraucht, der seinen Arbeitseinsatz abzeichnete, und der ihn bei seiner Arbeit beaufsichtigte.
Die Bibliothekare bewahrten hier viele der wertvollsten und einzigartigsten Schriften der Welt auf – das Gedankengut von Menschen, die in einigen Fällen schon seit mehreren tausend Jahren tot waren. Es war völlig ausgeschlossen, dass sie einem dahergelaufenen Praktikanten diese unersetzlichen Texte in die Hand geben würden, ohne ihn bei der Arbeit daran ständig zu beaufsichtigen. Und es war eine Sache, einen Praktikanten in der Bibliothek arbeiten
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