Silber
von den Landkarten bannen, indem er das Land in
Syria Palaestina
umbenannte – nach den Philistern, den alten Feinden der Juden. Und seit dieser Zeit war das Land nur noch als Palästina bekannt, und nicht als Kanaan, Judäa oder Iudaea. Es waren die Römer gewesen, die Palästina geschaffen und ihnen die heilige Stadt Jerusalem genommen hatten. Kaiser Hadrian hatte sie in Aelia Capitolina umbenannt und den Juden verboten, sie zu betreten.
Salomons Land konnte nicht auf eine stolze Geschichte zurückblicken.
Wie hätte Abandonato kein Mitgefühl für dieses Volk empfinden können, das in seiner eigenen Heimat so grausamen Untaten ausgesetzt war? Wie hätte er das Aufkeimen des Schuldgefühls unterdrücken sollen, das er als Historiker bei dieser Geschichte empfand? Dafür hätte er schon ein Monster ohne menschliche Gefühle sein müssen. In seinem Kopf konnte er das Gelächter und Hohngeschrei der Herodianer und der römischen Legionäre hören, die Jesus Christus zum König der Juden ausriefen.
Doch das lag alles schon so lange zurück, sagte er zu sich selbst, in dem Versuch, diese Geschehnisse durch den Schleier der Zeit weniger abscheulich wirken zu lassen. Doch das war nicht ganz leicht, denn in Rom gab es etliche Monumente aus der Herrschaftszeit Kaiser Hadrians, wie das Pantheon oder sein Mausoleum, das Castel Sant’Angelo. Seine geschichtliche Bedeutung war auch im heutigen Rom noch überall präsent.
Gianni Abandonato war ein Gelehrter.
Deshalb hatte er sich regelrecht dazu verpflichtet gefühlt, die Wahrheit zu enthüllen.
Doch dann waren die Ereignisse ins Rollen gekommen und die Wahrheit war ihm plötzlich nicht mehr so wichtig erschienen. Aus dem Plan war Realität geworden und Menschen waren gestorben. Es war ganz anders gewesen, als es nur ein Gedankenspiel gewesen war, eine Spekulation, ein Rätsel, mit dem er seinen Geist beschäftigen konnte.
Salomons ganzes Gerede von einem neuen Messias war auf Mord in einem riesigen und widerwärtigen Maßstab hinausgelaufen.
Dem hatte Abandonato nie zugestimmt. Daran wollte er keinen Anteil haben.
Das einzige, was er jetzt tun konnte, war, nachdenken. Und sein einziger Gedanke war, dass manche Wahrheiten besser für immer verborgen blieben.
Das war auch das, was er gerade tun sollte: im Verborgenen bleiben.
Als Nick Simmonds ihm vor zwei Wochen das kleine Kunststoffetui gegeben und ihn gebeten hatte, es unter den Kohlen neben dem Feuerrost in der Sixtinischen Kapelle zu verstecken, hatte er nicht gewusst, was man ihm damit aufgetragen hatte.
Jetzt wusste er es.
Jetzt verstand er alles.
Er wusste, was er zu tun hatte; auch, wenn es ihn das Leben kosten würde. Dieses Opfer würde er bringen müssen. Er konnte nicht mit dem Wissen leben, dass noch mehr Blut an seinen Händen klebte. Er war ebenso wenig ein Mörder wie die Zwölf Apostel Mörder gewesen waren. Sie hatten die unsterbliche Seele ihres Freundes Judas gerettet. Das war die einzige Interpretation des Zeugnisses von Menachem ben Ja’ir, die einen Sinn ergab. Sie waren außer sich gewesen vor Wut und Trauer. Dennoch war ihnen klar gewesen, dass er mit der Schuld des Verrates nicht würde leben können, und dass ihm als Selbstmörder der Weg in das Himmlische Reich für immer verschlossen geblieben wäre. Und deshalb hatten sie ihn gerettet – zumindest glaubte Abandonato das.
Hatte Gianni Abandonato auch das Zeug dazu, jemanden zu retten?
Er war ein Gelehrter. Seine Welt bestand aus Papier, aus Worten und Geschichten.
Wenn er diese Welt verließ, würde er zum Verräter werden, so wie Judas Iskariot durch sein Opfer für immer als Verräter gebrandmarkt worden war. Abandonato hatte das kleine Kunststoffetui unter den Kohlen versteckt, damit niemand es bemerken würde, bis die Kohlen verbrannt waren. Er hatte nicht gewusst, was sich in dem Etui befand, bis er die Berichte aus Berlin gehört hatte, wo ein Giftgasanschlag auf die U-Bahn verübt worden war. Da war ihm schlagartig klargeworden, was er da in dem Ofen versteckt hatte. Und wenn das Feuer angezündet wurde, um zu signalisieren, dass der neue Stellvertreter Christi gewählt worden war, würde er für den Tod des gesamten Kardinalskollegiums verantwortlich sein.
Man hatte ihn benutzt.
Er war ein Narr gewesen.
Aber Torheit war keine Entschuldigung.
Abandonato kannte sich selbst gut genug. Wenn dieses Feuer entzündet wurde, solange der Kunststoffbehälter noch in den Kohlen versteckt war, würde er es nicht mehr ertragen
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