Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen

Silber

Titel: Silber Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Steven Savile
Vom Netzwerk:
üblichen Aneinanderreihung von Liebesbeteuerungen und Sentimentalitäten, die schon nach wenigen Sekunden seine Aufmerksamkeit abschweifen ließen. Er zwang sich zur Konzentration und las langsam jeden einzelnen Satz, wobei er nach unpassenden Worten suchte, und darauf achtete, wie die Buchstaben auf der Zeile lagen, für den Fall, dass sie einzelne Lettern höher geschrieben hatte, um eine zweite, verborgene Botschaft in dem Brief zu buchstabieren. Doch er konnte nichts entdecken.
    Eine Stunde lang saß er so da, die Mittagssonne schien mit hellen und ungebrochenen Strahlen durch die Fenster herein. Die Hitze durch die Glasscheiben prickelte auf seiner Haut. Konstantin blickte von dem Brief auf und betrachtete die Frau in van Goghs
Kummer
, die mit hängenden Brüsten ihren Kopf weinend auf die verschränkten Arme gelegt hatte. Und wieder fiel ihm auf, wie ausnehmend hässlich das Bild war, besonders, weil es das einzige Kunstwerk in der Wohnung war. Er schob den Brief zurück in den Umschlag und den Umschlag zurück in die Tasche, dann ging er zu dem Bild hinüber. Er strich vorsichtig mit den Fingerspitzen darüber, von den oberen Ecken bis zur unteren Kante des Rahmens, um eventuelle Unebenheiten in der Leinwand zu ertasten. Er kaute auf seiner Unterlippe herum, ohne es zu bemerken. Da war nichts. Auch der Rahmen fühlte sich vollständig glatt an. Er fuhr ein zweites Mal mit den Händen an den Seiten entlang, weil er nicht glauben wollte, dass er sich geirrt hatte, aber auch diesmal fand er nichts. Er wollte der geheimnisvollen Unterschrift nicht zu viel Bedeutung beimessen, aber einen Versuch war es wert gewesen.
    Er grunzte.
    Es war wohl naiv gewesen zu glauben, dass sie ihn direkt zum versteckten Schatz führen würde; das X markierte nicht einfach die Stelle.
    Der Gründlichkeit halber nahm er das Bild von der Wand. Selbstverständlich kam dahinter kein in die Wand eingelassener Safe zum Vorschein. An der vergilbten Wand zeichnete sich deutlich der helle Umriss des Rahmens ab; das Bild hing schon jahrelang an diesem Platz, nicht erst seit wenigen Tagen.
    Konstantin hängte das Bild wieder auf. Er hielt es schief, um die Aufhänger auf die Haken zu fädeln, als etwas aus dem Rahmen fiel und klappernd auf dem Fliesenboden landete. Er stellte den
Kummer
ab und hob den Ehering aus Weißgold auf, der zu seinen Füßen lag. Auf der Innenseite war eine Reihe von Zahlen eingraviert – vermutlich der Hochzeitstag, dachte er bei sich. Das Problem war nur, dass Grey Metzger den Urkunden zufolge nie geheiratet hatte. Sie war tatsächlich eine Braut des Kummers.
    Er steckte den Ring ein und drehte das Bild um. Der USB-Stick, der an der Innenseite des Rahmens mit einem Stückchen Klebeband befestigt war, war so klein, dass er ihn fast übersehen hätte. Er zog die Klebefolie ab und steckte den Speicherchip zu dem Brief und dem Ring in die Tasche.
    „Wer warst du?“, fragte er laut und rieb sich das Kinn, während er auf den van Gogh am Boden hinabblickte. Auf seinem Kinn waren harte Bartstoppeln, es war schon achtundvierzig Stunden her, seit er sich das letzte Mal rasiert hatte. Aus Erfahrung wusste er, dass ihm das ein sehr wildes Äußeres verpasste, mit dem man kleine Kinder in Angst und Schrecken versetzen konnte – und um vier Uhr morgens auch erwachsene Männer.
    Wer war die Frau, die sich selbst die Braut des Kummers nannte? Ihre geistige Ruhe im Angesicht des Todes schrie geradezu nach CIA, MI6, Ex-KGB oder Mossad, eins davon mit Sicherheit. Er wusste vielleicht nicht, wer sie war, aber er war sich verdammt sicher, dass sie keine Lehrerin gewesen war.
    Die Antwort auf diese Frage, und möglicherweise noch einige andere, befand sich mit hoher Wahrscheinlichkeit auf dem USB-Stick. Er wollte einen Blick auf seinen Inhalt werfen, bevor er ihn Lethe übergab. Dafür brauchte er einen Computer.
    Konstantin hängte das Bild an die Wand und verließ die Wohnung des Toten in dem Wissen, dass er alles gefunden hatte, was es dort zu entdecken gab.

9
DIE GEHEIMNISSE VON FÁTIMA
    Dominico Neri war ein kleiner Mann mit einem verkniffenen Gesicht, dem das Gewicht der ganzen Welt auf den hängenden Schultern zu lasten schien. Er war aus dem Stoff geschneidert, aus dem Italiener sind – er hatte ein interessantes, wenn auch kein gutaussehendes Gesicht, schmal und braungebrannt, und sein Torso war ein umgedrehtes, gleichseitiges Dreieck aus hervorstehenden Rippen, das in einem zerknitterten Baumwollhemd steckte. Er saß Noah

Weitere Kostenlose Bücher