Silberband 028 - Lemuria
dachten als ihre terranischen Nachkommen, dann konnte dieser hier den beiden Brüdern kaum
gefährlich werden.
Der übliche Öffnungsmechanismus sprach auf die beiden Unsichtbaren nicht an. Rakal und Tronar
mußten warten, bis ein Lemurer auf das Portal zuschritt und es sich öffnete. Bevor die mächtigen
Flügel sich wieder schließen konnten, waren die Zwillinge hindurch.
An der linken Wand, zwischen zwei Antigravschächten, hing eine Bekanntmachungstafel, die sie
von draußen nicht gesehen hatten. Auf pechschwarzem Hintergrund blinkten in bunten Leuchtlettern
Dutzende von Hinweisen und Anzeigen. Eine davon fiel durch ihr kräftiges rotes Leuchten auf, das
alle anderen Bekanntmachungen überstrahlte.
Neugierig wandte Rakal sich der Tafel zu. Durch die Antiflektor-Brille sah er, daß Tronar sich
dicht neben ihm hielt. Beide Brüder waren inzwischen, wie auch der Rest der Besatzung des
Flaggschiffes, mit tefrodischer Sprache und Schrift vertraut. Tefroda aber war eine Modifikation
der lemurischen Sprache mit nur geringen Veränderungen. Rakal hatte keine Schwierigkeit, den
Hinweis zu lesen.
Er hatte die ersten Worte kaum begriffen, da wurde ihm klar, daß er einen wichtigen Fund
gemacht hatte. Die Bekanntmachung lautete:
»Alle Offiziere vom Stellvertretenden Einheitskommandanten an aufwärts finden sich unmittelbar
nach Beendigung der mittleren Wachperiode in der Eingangshalle des Gebäudes 243 ein. Der Hohe
Tamrat Frasbur von Lemur wird über neue Entwicklungen in der Strategie des Krieges sprechen.«
Tronar hatte den Hinweis ebenfalls gelesen. Rakal spürte die Erregung, die von ihm
ausging.
»Wohin wird Hakhat die Leute führen?« fragte er leise, als hätte er Angst, daß jemand ihn
hören könnte.
»Zu Frasbur«, antwortete Rakal. »Wir brauchen ihnen nur zu folgen, dann haben wir Frasbur
gefunden.«
»Das heißt«, dämpfte Tronar ab, »wenn es uns rechtzeitig gelingt, Gebäude zwo-dreiundvierzig
zu finden und festzustellen, wann die mittlere Wachperiode endet.«
»Ungefähr in fünf Stunden von jetzt«, stellte Rakal ruhig fest.
»Woher willst du das wissen?«
»Wir haben die letzte Ablösung beobachtet. Das war etwa vor drei Stunden. Die Bezeichnung
›mittlere‹ deutet darauf hin, daß es drei Wachperioden gibt. Ich vermute, daß die mittlere
diejenige ist, die von einem Tag in den nächsten überleitet. Auf der Erde müßte jede Periode acht
Stunden dauern, die mittlere also noch fünf Stunden, von jetzt an gerechnet. Kahalo hat nicht
dieselbe Umlaufzeit wie die Erde. Da haben wir also eine zusätzliche Unsicherheit von einer
halben bis zu einer Stunde. Aber im großen und ganzen …«
»Wenn du nur nicht so verdammt schlau wärest«, unterbrach ihn Tronar mit gespieltem Ärger.
Rakal hatte sich inzwischen umgesehen. An der Wand gegenüber dem Portal, durch die eine
kleinere, aber ebenfalls wie ein Torbogen ausgebildete Öffnung in einen leeren, hell erleuchteten
Gang führte, prangten in goldschimmerndem Metall drei lemurische Schriftzeichen. Es handelte sich
um Ziffern. Die lemurische Schrift lief von rechts nach links. Rakal las eine Eins, eine Sechs
und eine Sieben. Die Lemurer benutzten das Duodezimalsystem, in dem die Ziffer 12 dieselbe Rolle
spielte wie im Dezimalsystem die 10. Die erste Ziffer, 1, stand demnach nicht für 100, sondern
für 144. Die zweite bedeutete nicht sechzig, sondern zweiundsiebzig. Die dritte stand in beiden
Systemen für 7.
Rakal rechnete rasch. Die Zahl war 223, in das Dezimalsystem übersetzt. Er wandte sich um und
wiederholte die Prozedur mit der Zahl, die in der Bekanntmachung genannt war. Er erhielt 339.
»Wir befinden uns jetzt in Gebäude Nummer zwo-dreiundzwanzig«, erklärte er Tronar. »Wir suchen
Gebäude Nummer drei-neununddreißig. Die Zahlen sind nicht zu übersehen – falls sie überall
so deutlich angebracht sind wie hier. Wir können kaum fehlgehen.«
Als der nächste Besucher durch das Portal trat, benutzten sie die Gelegenheit, um nach draußen
zu gelangen. Dicht über den Boden dahingleitend, nahmen sie eine Reihe von Gebäuden in
Augenschein und ermittelten das System, nach dem die Lemurer ihre Numerierung durchführten.
Nummer 339 erwies sich als ein mächtiger Gebäudeklotz nahe dem südlichen Rand des Landefeldes. Er
besaß mehrere Zugänge, aber nur einen, der in eine Halle führte. Rakal sah auf die Uhr. Die Suche
hatte etwas mehr als eine Stunde in Anspruch genommen. Wenn er richtig
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