Silberband 070 - Gehirn in Fesseln
befinden, durchfuhr das Gehirn wie ein elektrischer Schlag. Es versuchte sich auszumalen, was es empfinden würde, wenn es von nun an bis in alle Ewigkeit hier liegen würde.
Der Blick ging hinaus zu den grasbewachsenen Hügeln, hinauf zum Tempel mit den in der Sonne liegenden Gestalten, zurück zu den Säulen, zu den Regalen mit den Behältern darauf.
Zwischen den Regalen verliefen breite Gänge, so daß das Gehirn vermutete, daß sich dort unten ab und zu jemand bewegte.
Welche Wesen mochten das sein, die zwischen diesen Regalen hin und her gingen, um sich Gehirne zu betrachten?
Befinde ich mich etwa in einem Museum? fragte sich das Gehirn. In einer teuflischen Ausstellung, deren Sinn ich nicht einmal erahnen kann?
Das Gehirn erinnerte sich genau, auf welche Weise man es von seinem Körper getrennt hatte. Es wußte auch, daß nun ein Androidengehirn in seinem Körper ruhte und an seiner Stelle die Verbindung zur Umwelt aufrechterhielt.
Doch das war auf der Erde geschehen. Die Welt, auf der sich das Gehirn jetzt befand, war nicht die Erde. Dazu war alles zu fremdartig. Außerdem war die Erinnerung an eine phantastische, unendlich lange Reise noch zu frisch.
Die Frage, die immer drängender wurde, lautete: Wo bin ich?
Das Gehirn hatte niemals zuvor von einem solchen Platz gehört, deshalb begann es zu befürchten, daß es sich in einem unbekannten Gebiet der eigenen Galaxis oder sogar in einer fernen Galaxis befand.
Das Gehirn hatte so viel erlebt, daß es abstrakt denken konnte. Allein diese Tatsache rettete es vor dem Wahnsinn. Irgend jemand war dafür verantwortlich, daß es sich hier befand. Dieser Gedanke besaß etwas tröstliches, denn er bewies, daß das Gesetz von Ursache und Wirkung auch bei diesem unglaublichen Geschehen seine Gültigkeit besaß.
Die Gedanken, die das Gehirn beschäftigten, hatten es derart aufgeputscht, daß es erst jetzt auf das Raunen aufmerksam wurde, das es seit seinem Erwachen empfing und für das es noch keine Erklärung gab.
Trotzdem zwang sich das Gehirn zu einer realistischen Einschätzung der Lage.
Es war sich darüber im klaren, daß es kein Wesen mit Armen und Beinen, sondern ein in einem Behälter schwimmendes Etwas war, dessen zahllose Nervenenden, mit Hilfe einer unverständlichen Technik konzentriert, an einem Mikrogerät an der Innenwandung des Behälters endeten. Dieses Mikrogerät war offenbar eine Art Nervenimpuls-Kommunikator, der alle Gedankenströmungen des Gehirns verarbeitete und weitergab, gleichzeitig aber auch in der Lage war, optische und akustische Eindrücke aufzunehmen und an das Gehirn weiterzugeben.
Was völlig fehlte, waren Geruchs- und Geschmackssinn, der Sinn für körperliche Schmerzen und vor allem ein Körper, der auf die Muskelbewegungsimpulse reagiert hätte.
Trotzdem hatte das Gehirn ab und zu den Eindruck, daß es noch einen Körper besaß. Wahrscheinlich war dieser Eindruck vergleichbar mit den Phantomschmerzen, die ein Mensch mit amputierten Gliedmaßen oft empfindet.
Ein zweites Gefühl breitete sich in dem Gehirn aus und lähmte seine Aktivität: völlige Hilflosigkeit.
Es war in diesem Behälter eingeschlossen und konnte hören und sehen. Doch es war zu völliger Bewegungslosigkeit verdammt. Es besaß nicht einmal einen Pseudokörper, der anstelle des echten Körpers bestimmte Handlungen durchgeführt hätte.
Selbst ein lebendig begrabener Mensch konnte nicht solche Qualen empfinden, denn er durfte hoffen, daß er durch den Tod aus seinem unerträglichen Zustand erlöst wurde.
Das Gehirn wußte jedoch nicht, wann sein Tod eintreten würde. Vielleicht war es in diesem Zustand unsterblich!
Ich muß irgend etwas tun! dachte das Gehirn.
Der Anblick all der anderen Gehirne rief widersprüchliche Gefühle in ihm hervor. Es konnte deutlich erkennen, daß es sich um die Gehirne verschiedenartiger Lebewesen handelte, eine Feststellung, die den makabren Eindruck, Teil einer Ausstellung von Gehirnen zu sein, noch verstärkte.
Andererseits wirkte die Nähe der anderen Gehirne tröstlich. Es gab noch andere, die ein ähnliches Schicksal erlitten hatten und damit fertig werden mußten. Wie bewältigten sie ihre Probleme?
Nachdem es diese Flut von Daten und Wahrnehmungen in sich aufgenommen hatte, verfiel das Gehirn wieder in Panik. Seine Gedanken rasten. Die Sehnsucht nach Freiheit wurde übermächtig.
Es beruhigte sich erst, nachdem es völlig erschöpft war. Doch der Zustand der Ruhe war trügerisch. Es überlegte, daß es sinnlos
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