Silberband 088 - Der Zeitlose
diesem Augenblick erfolgte in einem der Nachbargebäude eine Detonation. Der Lärm brach so unvermittelt über den Afroterraner herein, dass er aufschrie und sich auf dem Gang hinwarf.
Er lag noch da, als die Tür zum Behandlungsraum von innen völlig aufgestoßen wurde und eine junge Frau auf den Gang trat. Kanube starrte sie an wie eine Erscheinung. Sie blickte zunächst in die andere Richtung des Korridors, dorthin, von wo die Explosionsgeräusche gekommen waren. Dann drehte sie den Kopf und sah ihn am Boden liegen.
Kanube dachte bewundernd, dass er selten eine schönere junge Frau gesehen hatte. Ihr Alter war schwer zu schätzen, sie konnte ebenso fünfzehn wie fünfundzwanzig sein. Sie war schlank, aber mit weiblichen Formen. Ihr dunkelbraunes Haar war zu einem schweren Zopf geflochten und im Nacken zusammengesteckt. Sie trug blaue Hosen und einen schwarzen Pulli. Quer über der Brust war ein Schattenbuchstabe aufgedruckt, ein großes ›M‹.
Eine Zeit lang starrten Kanube und die Frau sich an. Dann weinte sie hemmungslos.
Kanube richtete sich auf. Er merkte, dass er noch immer die Zange in der Hand hielt, und ließ sie fallen. So, wie er da stand, hilflos und die Schuhe in der linken Hand, kam er sich ziemlich albern vor.
Die Frau ging rückwärts bis zur Wand und lehnte sich dagegen. Sie presste beide Hände vor ihr Gesicht. »Ich … ich dachte, es wäre überhaupt niemand mehr da!«, stieß sie abgehackt hervor.
Kanube sagte matt: »Das dachte ich auch!«
Etwas Besseres fiel ihm nicht ein. Er war plötzlich sicher, dass er keine Aphilikerin vor sich hatte. Das erleichterte ihn. Er überlegte, dass die Frau sicher ähnliche Befürchtungen wie er hegte, und fügte schnell hinzu: »Ich bin non-aphilisch!«
Sie schaute auf. »Das … das merkt man doch!«
»So?«, fragte er erstaunt. »Woran denn?«
»Einfach so.« Sie machte einen tiefen Atemzug. »Ich bin froh, dass jemand hier ist, noch dazu ein Immuner.«
»Ich bin nicht immun«, korrigierte Kanube. »Ich habe die PILLE genommen, das heißt, eine Überdosis. Seither bin ich immun. Wie ist es mit Ihnen?«
»Ich habe zwanzig PILLEN genommen.« Sie schien froh zu sein, mit jemand reden zu können, die Worte sprudelten leicht über ihre Lippen. »Ich befand mich in einem Rauschzustand. Ein Ka-zwo griff mich auf und brachte mich hierher. Danach kann ich mich an nichts erinnern. Vor ein paar Stunden bin ich aufgewacht.«
»Unser Schicksal ist fast identisch«, erkannte Kanube. Er starrte auf seine linke Hand. »Ich werde jetzt meine Schuhe anziehen. Als ich Sie husten hörte, bin ich durch das Haus geschlichen.«
Sie lachten beide.
»Wie heißen Sie eigentlich?«, fragte Kanube, nachdem er in seine Schuhe geschlüpft war.
»Marboo«, erwiderte sie. »Eigentlich Mara Bootes, aber meine Freunde nennen mich Marboo.«
Kanube blickte in ihr klassisch geschnittenes Gesicht mit den dunkelbraunen Augen und sagte: »Marboo passt viel besser zu Ihnen.«
»Und wer sind Sie?«
»Sante Kanube. Es gibt nicht viel über mich zu erzählen.« Er schaute auf den Boden. »Ich … ich arbeite als Erfinder und Organisator.«
»Ich arbeite überhaupt nicht.«
»Naja«, sagte Kanube, »das macht wohl keinen Unterschied.«
Sie blickte sich um und fragte: »Wohin mögen sie alle gegangen sein?«
»Ich glaube«, antwortete Kanube, »dass etwas Schreckliches passiert ist. Ich habe vergeblich versucht, jemanden anzurufen oder ein Trividprogramm zu empfangen.«
»Draußen ist auch niemand«, sagte Marboo. »Ich war für einen Augenblick auf der Straße, aber dort war es so still und verlassen, dass ich wieder in die Anstalt flüchtete.«
»Das kann ich verstehen.«
Kanube fühlte sich befangen. Er wusste nicht, wie er sich der Frau gegenüber verhalten sollte. Die Situation war ungewöhnlich. Zwei äußerlich unterschiedliche Menschen, die jahrelang als Aphiliker gelebt hatten, standen sich nun als Immune in einer verlassenen Heilanstalt gegenüber.
»Wie alt sind Sie?«, fragte Kanube.
»Neunzehn!« Sie musterte ihn forschend und brach in schallendes Gelächter aus. »Sie befürchteten, ich sei noch ein Kind!«
»Das nicht gerade«, sagte er verdrossen. »Aber doch sehr jung.«
»Werden wir wieder die PILLE nehmen müssen, um unsere Immunität zu bewahren?«
Kanube hob ratlos die Schultern.
»Was haben Sie überhaupt vor?«, erkundigte sich Marboo.
»Es ist irgendetwas passiert«, erwiderte er. »Etwas Entscheidendes. Wir müssen herausfinden, was. Danach
Weitere Kostenlose Bücher