Silberband 094 - Die Kaiserin von Therm
Als knapp vor mir plötzlich eine Gestalt aus einer der Nischen hervorsprang, erschrak ich derart heftig, dass ich von der Schiene abrutschte und in dem schmutzigen Wasser landete.
Ich rappelte mich auf, spie einen Mund voll Wasser aus und rief: »Bleiben Sie doch stehen! Ich tue Ihnen bestimmt nichts!«
Während ich mich wieder auf die Schiene zog, blieb der Fliehende endlich stehen und blickte sich nach mir um. »Wer sind Sie?«, fragte er bebend.
»Tatcher a Hainu von der SOL, Mister. Ich glaube, ich habe mich verirrt. Wie heißen Sie denn?«
»Ich bin Asoka«, antwortete der Fremde und kam ein paar Schritte zurück.
Neugierig musterte ich ihn, als er in den Lichtkreis meines Handscheinwerfers geriet. Er war groß, breit und knochig, schien aber seit längerer Zeit nur wenig gegessen zu haben, denn sein Gesicht wirkte eingefallen. Außerdem trug er abgerissene Kleidung.
Irgendwie kam mir der Name Asoka bekannt vor, aber diesen Mann hatte ich bestimmt noch nie gesehen.
»Kommen Sie doch auf die Schiene!«, bat ich. »Es ist nicht gesund, immerzu mit nassen Füßen herumzulaufen.«
Er gehorchte schweigend. Ich reichte ihm einen Konzentratwürfel und sah zu, wie er ihn heißhungrig hinunterschlang.
»Was tun Sie eigentlich hier unten?«, fragte ich endlich.
»Ich halte mich verborgen. Weil oben unheimliche Dinge vorgehen.«
Wieder war da dieses rätselhafte und unverständliche Flüstern. Auch Asoka schien es gehört zu haben. Er drehte sich jedoch nicht suchend um, sondern fixierte das Brustteil meines Kampfanzugs. In seine dunklen Augen trat ein Ausdruck von Verwirrung.
Es schien, als vermisste er etwas an mir.
Natürlich, ich hatte mir Sagullias Amulett an einer Kette um den Hals gehängt. Aber dort war es nicht mehr. Bei dem Sturz vorhin musste mir das Amulett auf den Rücken gerutscht sein.
Ich beugte mich vor, bückte mich und sagte: »Greifen Sie doch bitte unter meinen Kampfanzug, Asoka. Dort muss etwas sein.«
Ich spürte seine Hand in meinem Nacken, dann glitt sie tiefer – und endlich begriff ich, was los war. Mit einem Aufschrei ließ ich mich fallen, so dass Asokas Hand zurückrutschte. Dann richtete ich mich halb auf und musterte ihn aufmerksam.
»Beinahe hätte ich Ihren Tod verschuldet, Molekülverformer«, sagte ich. »Das, was Sie auf meinem Rücken suchen wollten, ist ein Amulett, das bei Berührung tödlich auf jeden Molekülverformer wirkt. Es tut mir schrecklich Leid.«
Er stand erstarrt da, so dass ich schon das Schlimmste befürchtete. »Wie haben Sie gemerkt, was ich bin, Tatcher a Hainu?«, fragte er endlich.
»Es war Ihr Name, Mister, der mich gleich stutzig machte. Trotzdem dauerte es einige Minuten, bis mir einfiel, von wem ich diesen Namen mehrmals gehört hatte. Dalaimoc Rorvic hat früher oft versucht, mir seine Philosophie aufzudrängen. Dabei fiel immer wieder der Name des frühen indischen Kaisers Asoka, der viele Menschen hatte töten lassen und durch einen so genannten Arhat, einen Heiligen, auf den Weg der Tugend zurückgeführt worden war.
Ich bezweifle, dass von der Hand voll Menschen, die noch auf der Erde leben, einer etwas von diesem Asoka weiß. Nur wer mit meinem Psychopartner Dalaimoc Rorvic Kontakt hatte, kann es von ihm erfahren haben – oder jemand, der Rorvics Bewusstsein sondierte.«
»Es ist bedauerlich, dass Sie meine Tarnung durchschaut haben, a Hainu«, erwiderte der Molekülverformer.
Ich winkte ab. »Ach was! Wenn ich Ihre Tarnung nicht durchschaut hätte, lebten Sie jetzt nicht mehr. Aber warum überhaupt dieses Spiel? Mit mir kann man jederzeit offen reden.«
»Sie bringen mich in Verlegenheit, a Hainu«, sagte Asoka. »Ich muss Sie töten, weil Sie nicht auf die Konditionierung angesprochen haben. Gleichzeitig verdanke ich Ihnen mein Leben und bin nach dem GESETZ verpflichtet, Gleiches mit Gleichem zu vergelten. Was soll ich tun?«
»Am besten gar nichts«, antwortete ich. »Oder doch! Ich würde gern einen Molekülverformer in seiner wahren Gestalt sehen. Tun Sie mir diesen Gefallen! Und verraten Sie mir außerdem, ob es bei Ihnen Molekülverformer oder Molekularverformer heißt. Wir benutzen nämlich hin und wieder beide Namen.«
»Wir nennen uns Gys-Voolbeerah – und ich trage den Namen Kaalech«, antwortete er. »Und genau genommen sind beide Namen, die Sie verwenden, richtig. Weil wir uns im molekularen Bereich verformen, also eine Verformung unserer Moleküle vornehmen. Aber das GESETZ erlaubt mir nicht, mich einem anderen
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