Silberband 106 - Laire
bitter, denn er hatte seinen Beruf geliebt. Er wäre am liebsten nie von Gäa weggegangen und ich auch nicht. Aber mich hatte nie jemand gefragt, und Vater hatte sich Mutters Willen gebeugt.
Immer wenn Vater auf seine Fähigkeiten hinwies, die auf der Erde niemand zu brauchen schien, sagte Mutter darauf, dass er nicht so stur sein und umdenken sollte.
»Für andere Arbeit bist du dir zu gut«, sagte sie aus der Küche. Vater stand wohl noch in der Diele. »Wenn du keinen solchen Dickschädel hättest, würdest du dich umschulen lassen. Aber nein, alles andere als die Position eines L-Kontakters ist dir zu gering.«
»Vielleicht habe ich doch was, Aldina«, sagte Vater unsicher.
»Warum hast du nicht zugepackt?«
»Die Sache will überlegt sein. Wir sprechen nach dem Abendessen darüber. Was gibt es?«
»Was weiß ich, was das ist, was uns die Fürsorge mit der Rohrpost geschickt hat. Es hat jedenfalls die Form der Rohrpostpatrone. Ich habe das Stück in zwei Hälften geteilt. Die eine Hälfte haben die Kinder bereits verputzt. Die andere bereite ich für uns beide auf.«
»Wo sind die Kinder?«
Ich ruckte automatisch von meinem Platz hoch, ließ mich dann aber wieder zurücksinken. Wenn Vater ›Kinder‹ sagte, meinte er doch nur meine ältere Schwester Kerinnja. Und da hörte ich sie auch schon laufen und jauchzen. Ich stellte mir vor, wie sie ihm in die Arme flog und er sie hochhob und abknutschte. Vater liebte Kerinnja.
Ich stahl mich aus meinem Zimmer und machte mich ganz klein, als ich ins Wohnzimmer kam und von dort in die Diele sehen konnte. Ich war so schon nicht gerade groß, konnte aber bequem das Kinn auf die Tischplatte legen.
»Was hat denn mein Sternenfräulein heute so getrieben?«, fragte Vater in einem Ton, den ich gerne von ihm hörte, obwohl er ihn mir gegenüber nie gebrauchte.
»Das unverschämte Gör hat mich den ganzen Tag kreuz und quer durch Istanbul geschleppt«, antwortete Mutter anstelle meiner Schwester. »Von einer Schule zur anderen. Aber keine war ihr recht. Auf der einen war der Lehrplan zu umfangreich, bei der anderen zu improvisiert. Hier waren ihr die Erziehungsmethoden zu antiautoritär, dort zu repressiv …«
»Ich will zur Emerson-Schule«, warf Kerinnja trotzig ein. »Nur dort entsprechen die Lehrmethoden meinen Vorstellungen.«
»Und?« Eine Spur Strenge schlich sich in Vaters Stimme. »Warum habt ihr euch nicht um Aufnahme an dieser Schule beworben?«
»Diesen Floh hat ihr irgendein Streuner ins Ohr gesetzt«, sagte Mutter. »Er hat sich an uns herangemacht und irgendwas von der Freiheit der Kinder gefaselt. ›Nicht dressieren sollt ihr sie‹, hat er gesagt, ›sondern in Freiheit sollt ihr sie heranwachsen lassen.‹ So ein Unsinn.«
»Ich möchte zur Emerson-Schule!«, drängte Kerinnja.
Mutter seufzte. »Ich hätte ihr ihren Willen gelassen. Aber so eine Schule gibt es nicht. In ganz Istanbul nicht und wahrscheinlich auf ganz Terra nicht. Der Kerl war ein Spinner.«
»Ihr könnt morgen weitersuchen«, vertröstete Vater meine ältere Schwester und verabschiedete sie mit einem Klaps. Sie schenkte ihm dafür einen schmachtenden Augenaufschlag.
Kerinnja war schon eine junge Dame. Vierzehn. Mit einem Busen wie Mutter. Kerinnja war sehr stolz darauf und sagte mir bei jeder Gelegenheit, dass ich nie so gut entwickelt sein würde wie sie.
»Du bist sieben, siehst aber aus wie ein Küken, das eben aus dem Ei geschlüpft ist«, hat sie mir einmal vorgehalten. Seitdem weiß ich, dass Hühner aus Eiern kommen. Ich könnte keines mehr essen.
Vater kam ins Wohnzimmer und ließ sich in eine Sitzmulde sinken. Er verschwand fast darin. Mich entdeckte er nicht, ich war leicht zu übersehen. Kerinnja setzte sich zu ihm auf den Schoß.
»Bist du nicht schon zu alt dafür?«, meinte Vater.
»Ich möchte nie erwachsen werden«, sagte Kerinnja. Sie war intelligent und sehr schlau. Außerdem eine gute Schauspielerin. Wenn sie es wollte, war sie ein Baby. Aber sie konnte sich ebenso wie eine Dame benehmen. Neben ihr wirkte Mutter manchmal unscheinbar und naiv.
»Was ist das für ein Job, den du in Aussicht hast?«, fragte Kerinnja.
»Das ist nichts für kleine Mädchen. Komm, geh auf dein Zimmer. Aldina und ich haben miteinander zu reden.«
Als Mutter mit dem Abendessen kam, trollte sich meine Schwester aus dem Zimmer. Sie war eingeschnappt, war aber selbst schuld daran, wenn Vater sie fortschickte. Diesmal war sie zu schlau gewesen. Mich übersahen Vater und Mutter
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