Silberband 106 - Laire
Loower aus Höflichkeit.
»Warum nennst du mich eigentlich nicht beim Namen?«, wollte Baya wissen. »Du nennst alle anderen beim Namen, sagst zu Vater nicht dicker Lotsen-Kontakter und zu Mutter nicht terranisches Mütterchen und zu meiner Schwester nicht Sternenfräulein. Aber ich bin nur deine kleine Terranerin.«
»Wieso weißt du, wie ich die anderen anspreche?«, erwiderte Lank-Grohan. »Du bist bei unseren Gesprächen nicht dabei.«
»Doch, ich bin dabei«, behauptete Baya. »Ich bin immer da, nur kann ich mich ganz klein machen, dass mich niemand sieht. Das habe ich schon immer getan. Auch zu Hause.«
»Wirklich? Warum?«
»Es macht Spaß.«
»Nur deshalb machst du dich klein?«
»Na ja, es beachtet mich sowieso keiner. Außerdem erfahre ich viel mehr, wenn ich mithöre. Zu mir würde man gewisse Sachen nicht sagen, weil ich sie ohnehin nicht verstehe. So glaubt man jedenfalls.«
»Aber du verstehst?«
»Nicht alles. Doch manches. Jetzt will ich dich nicht länger aufhalten. Ich weiß, dass du viel zu tun hast. Ich wollte dich nur bitten, mich ebenfalls beim Namen zu nennen.«
»Nicht so hastig, kleine … Baya. Ich möchte dich etwas fragen.«
Das Mädchen wollte schon davoneilen, drehte sich aber um. »Du willst mit mir sprechen?«, fragte Baya erstaunt. »Ist deine Zeit dafür nicht zu kostbar?«
»Mach dir darüber keine Sorgen.« Lank-Grohan war erstaunt über die Sprechfertigkeit des kleinen Mädchens. Von Bayas Vater wusste er, dass sie geistig etwas nachhinkte, und er hatte Haman das ungeprüft geglaubt.
»Was weißt du denn über meine Arbeit?«, fragte er.
»Ich beneide dich nicht darum. Ich finde es zum Verzweifeln, wie du Vater ständig etwas zu erklären versuchst, aber dafür nicht die richtigen Worte findest. Wenn ich dir zuhöre, tust du mir richtig leid. Manchmal hat es mich schon gejuckt, mich einzumischen und dir zum Trost zu sagen, dass wenigstens ich dich verstehe. Aber das gehört sich nicht. Vorlaut sein ist eine der größten Untugenden bei kleinen Mädchen. Ich weiß, was sich gehört.«
»Du scheinst gut erzogen zu sein, Baya.«
»Vater braucht mich nie zu tadeln«, sagte sie stolz. »Vater braucht mir nie zu sagen, was ich tun und lassen soll, ich weiß das von selbst. Wenn er trotzdem mal ein böses Wort zu mir sagt, dann weiß ich ja, woher das kommt. Er hat es nicht leicht.«
»Wenn du so rücksichtsvoll deinem Vater gegenüber bist, dann hat dich vermutlich deine Mutter in diesem Sinn erzogen.«
Darauf antwortete Baya nichts. Sie wirkte auf einmal verstockt.
»Was bedrückt dich?«, forschte Lank-Grohan, dessen Interesse an dem Mädchen geweckt war. Bayas Verhalten entsprach gar nicht seinen Vorstellungen von einem geistig zurückgebliebenen Kind. Er fand, dass sie geistig sogar sehr rege war – und nicht so verschreckt, wie es den Anschein hatte. »Etwas scheint dir an meinen Fragen missfallen zu haben, dass du plötzlich schweigst. Was ist es?«
»Ich will dich nicht belästigen, Lank. Darf ich wie die anderen dich so nennen?«
»Selbstverständlich. Du könntest sogar noch vertraulicher mit mir werden.«
»Was du über Erziehung gesagt hast …« Baya unterbrach sich, redete aber sofort weiter. »Ich weiß natürlich, was du damit meinst. Ja, ich glaube, ich bin wohlerzogen. Aber das habe ich mir von Kerinnja abgeschaut. Ich höre zu, wenn Vater oder Mutter ihr sagen, was gut und richtig ist, und halte mich daran. Meine Eltern haben nicht die Zeit, sich um uns beide gleichermaßen zu kümmern. Eine muss eben zurückstehen.«
»Wenn ich dich recht verstehe, dann sorgst du für dich selbst.«
»Verstehe mich nicht falsch, ich will mich nicht über mangelnde Obhut beschweren«, sagte Baya. »Es geht mir gut, ich bin zufrieden, wie es ist.«
Der Loower traute seinem Gehör nicht. War das wirklich ein terranisches Kind, das da zu ihm sprach? Dazu noch ein angeblich in seiner Entwicklung zurückgebliebenes Kind? Von den anderen Terranern, die er viel höher eingeschätzt hatte, hatte er so kluge Worte noch nie so einfach und treffend formuliert gehört. Baya war eine Entdeckung für ihn.
»Würdest du bitte wiederholen, was du über meine Arbeit gesagt hast?«, fragte er.
»Aber davon verstehe ich doch nichts.«
»Vorhin hast du das Gegenteil behauptet«, erinnerte der Loower das Mädchen. »Sagtest du nicht, dass du verstehen konntest, was ich deinem Vater oder den beiden Frauen verständlich zu machen versuche? Und dass es dich – wie sagtest du
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