Silberband 106 - Laire
Lebenszyklus wiederholt sich seit undenklichen Zeiten, und er findet in allen Lebensbereichen und allen Altersgruppen statt. Die menschliche Gesellschaft krankt daran, dass kaum ein Mensch er selbst sein kann. Es gibt Tabus, Zwänge und Verhaltensregeln, denen sich alle ausgesetzt sehen, und jeder wird von jedem auf irgendeine Weise geformt und erzogen. Das ist das Hauptproblem; es beginnt mit der Geburt und endet mit dem Tod.«
Nach dieser langen Einleitung machte Lank-Grohan eine Pause, um dem Türmer Gelegenheit für Fragen zu geben. Aber Goran-Vran schwieg.
»Baya hatte das Glück, von ihren Eltern vernachlässigt zu werden«, fuhr der Psychologe fort. »Sie hatte für terranische Verhältnisse denkbar größten Spielraum für ihre Entwicklung und konnte sich selbst formen. Sie ist unverdorben geblieben, hat sich ihre kindliche Unschuld bewahrt. Im Grunde genommen ist das soziologische System der Terraner wider ihre Natur. Sie tragen den Keim der Freiheit in sich, nur sehen sie sich außerstande, ihre Wünsche zu artikulieren. Es ist eigentlich ein Anachronismus, dass Kinder unterdrückt werden und sich aus ihnen dennoch starke Persönlichkeiten entwickeln. Die Terraner praktizieren die Freiheit des Individuums, doch ihre Kinder versklaven sie. Wären ihre Erziehungsgrundsätze so repressionsfrei wie die Gesetze für mündige Bürger, dann hätten wir ein Volk vor uns, in dem es Außenseiter wie diesen Boyt Margor nicht gäbe.«
»Du glaubst also, dass dieser ominöse Einzelgänger das Auge für sich persönlich in Besitz genommen hat?«, fragte der Türmer.
»Um der Wahrheit gerecht zu werden, muss ich gestehen, dass dies sogar für mich unvorstellbar ist«, erwiderte Lank-Grohan. »Aber rein wissenschaftlich wäre die Existenz einer solchen Gestalt denkbar – ich meine das hypothetisch-deduktiv betrachtet. Die Entelechie kennt solche Hypothesen nicht, und das ist der Hauptgrund, warum wir die terranische Denkart nicht verstehen.«
»Demnach wäre die Entelechie der terranischen Philosophie unterlegen?«
»Das habe ich nicht gesagt. Ich meine nur, dass alle Systeme Nachteile haben, also auch das unsere.«
»Woraus schließt du aber, dass die Terraner in ihrer Entwicklung schon viel weiter wären, würden sie ihren Nachkommen bessere Entfaltungsmöglichkeiten bieten?«, fragte der Türmer.
»Ich habe mir von einem Sonderkommando aus terranischen Archiven Standardwerke von Psychologen beschaffen lassen«, sagte Lank-Grohan. »Darin fanden sich interessante Aussagen über die menschliche Natur und den menschlichen Geist. Die Psychologen sind sich in dem Punkt einig, dass die Menschen ihre geistige Kapazität nur zu einem Bruchteil nutzen. Ich wage zu behaupten, dass an dieser Verkümmerung des menschlichen Geistes zu einem hohen Prozentsatz die repressive Erziehung schuld ist. Wir Loower sind Zweidenker, wir lösen unsere Probleme auf zwei Bewusstseinsebenen, deren wir uns willentlich bedienen können. Die Menschen sind diesbezüglich monoid, aber ihre Psychologen sprechen von ihnen als dreifach geschichteten Lebewesen. An der Oberfläche tragen sie die Maske der Selbstbeherrschung, mit der sie ausdrücken, dass sie sich allen selbst erschaffenen Zwängen und Tabus unterwerfen. Darunter verstecken sie die zweite Schicht, die sie das Unbewusste nennen. In diesem Unbewussten werden alle negativen Eigenschaften in Schach gehalten, die bei labileren Menschen oder bei veränderten wie diesem Boyt Margor zum Durchbruch kommen können. Dahinter, in der Tiefe, lebt die wahre Natur, der biologische Kern, den wir als Gegenstück zu unserem Tiefenbewusstsein bezeichnen könnten, der aber trotzdem nicht dasselbe ist. Diese dritte Schicht scheint verleugnet und gefürchtet zu sein, denn sie widerspricht allen Regeln autoritärer Erziehung. In ihr sind die Kollektivität, Sozialität und Liebesfähigkeit verborgen, die wir Loower in unserem Tiefenbewusstsein beherrschen. Diese Tiefenschicht scheint mir die einzig reale Hoffnung für die Menschen zu sein, ihr geistiges Elend eines Tages zu bewältigen. Bei Baya war diese Schicht noch nicht so sehr verkrustet, dass die entelechische Botschaft sie nicht hätte erreichen können. Darum hat sie den Sprung auf unsere Denkebene geschafft.«
»Du hast mir sehr erschöpfend Auskunft gegeben«, sagte Hergo-Zovran. »Vertrauter sind mir die Menschen deshalb nicht geworden.«
»Allen Versuchen, den Charakter eines Kindes zu ›formen‹, liegt nur die Absicht zugrunde, die
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