Silberband 108 - Grenze im Nichts
in der Nähe. Ein seltsames Scharren und Stöhnen wie von einem verletzten Tier. Baya schlug schon einen Bogen um den Bereich, von dem die Geräusche kamen, als sie andere Laute vernahm.
Diesmal klang es nicht nach einem Tier. Vorsichtig glitt Baya näher. Zwischen den Felsen wuchsen Büschel eines hohen Grases und vertrocknete Dornbüsche. Baya hatte Mühe, sich nicht in den Dornen zu verfangen. Sie trat das Strauchwerk nieder, was ein dumpfes Knacken hervorrief.
»Hierher …!«
Beim Klang der menschlichen Stimme zuckte sie zusammen. Ihr erster Impuls war, einfach davonzulaufen, doch es widerstrebte ihr, einen in Not befindlichen Menschen im Stich zu lassen.
Baya trat weiter nach vorn. Da lag ein kleiner, kahlköpfiger Mann mit runzliger Haut. Er konnte nicht größer sein als Baya selbst, aber bestimmt war er an die zweihundert Jahre alt.
»Kann ich helfen, Alterchen?« Sie kniete neben der gebrechlichen Gestalt nieder.
Der Alte hob den Kopf und sah sie aus stumpfen Augen an. »Baya«, kam es krächzend über seine Lippen. Da wusste sie, wen sie vor sich hatte.
»Puko, du?«, fragte sie fröstelnd. »Was ist mit dir passiert?«
»Ich … habe mich verausgabt … war zu viel für mich. Es geht zu Ende … bin ein Greis in einem Kinderkörper.«
Baya wusste, dass Tempester nach einer Drangperiode stets eine längere Regenerationspause brauchten. War ihnen dies nicht möglich, alterten sie unheimlich schnell.
Der Halbjährige mit dem Greisenkörper drehte sich herum. Baya stieß einen spitzen Schrei aus, als sie unter ihm das Auge sah.
»Nimm es!« Puko wälzte sich auf die Seite. »Ich habe es … schon auf dem Schlachtfeld gefunden.«
»Du hattest es die ganze Zeit über bei dir? Wieso hast du es mir nicht gebracht?«
»Ich war neugierig.« Puko zuckte die knochigen Schultern, er hatte so gut wie keine Muskeln mehr am Körper. »Aber ich habe dafür einen hohen Preis bezahlt. Trotzdem … bereue ich nichts. Ich bin nur froh, dass du das Auge endlich bekommst, Baya … hatte nicht mehr die Kraft, es dir zu bringen.«
»Was hast du damit angestellt?«, fragte Baya besorgt.
»Hineingeblickt … oder durchgeblickt … weiß nicht genau. Es war faszinierend. Ich konnte nicht aufhören, bis ich … vor Schwäche … zusammenbrach.«
»Und was hast du gesehen, Puko?«
Der Greisenkörper zitterte. »… kenne nichts Vergleichbares. Es war fantastisch … Ich habe … mehr gesehen und erlebt, als ich in hundert Tempesterleben erfahren könnte …«
»Ruh dich aus, Puko.« Baya streichelte ihn. »Mach die Augen zu und schlafe. Du wirst dich regenerieren. Wenn du aufwachst, dann wird es sein, als wäre nichts geschehen.«
Puko schüttelte den Kopf. Sein Blick war in den Himmel gerichtet, auf seinem runzligen Gesicht lag ein glücklicher Ausdruck. Baya musste gegen ihre aufsteigenden Tränen ankämpfen.
»Da waren seltsam anzusehende Wesen … mit stumpfen Flügeln, mit denen sie aber nicht fliegen konnten. Sie lebten in neun Türmen. Und in einem … dieser Türme befand sich ein unglaubliches Gebilde, unförmig und zerklüftet … Es teilte sich neunfach … und war mit jedem Teil wie ein Ganzes …«
Pukos Beschreibung war eindeutig. Baya erinnerte sich an ihre Pflichten den Loowern und dem Helk Nistor gegenüber. Das Auge hatte ihm diese Dinge gezeigt. Auch Margor hatte mit dem Auge in ferne Bereiche und sogar in die Vergangenheit geblickt.
»… und ein Großer ist verschollen. Er heißt Pankha…« Puko verstummte.
In die folgende Stille platzte wildes Geschrei. »Da ist die Tanzende Jungfrau!«
Baya schreckte hoch. Sie sah Kjo und die anderen über einer Felskuppe auftauchen. Puko rührte sich nicht mehr. Mit Tränen in den Augen hob sie das Auge vors Gesicht.
Kjo und ihre Begleiter hielten abrupt an und blickten andächtig zu Baya herüber. Offenbar hielten sie die Handhabung des Auges für ein Ritual, was nicht einmal so abwegig war.
»Ihr versteht nicht«, sagte Baya in ihre Richtung. »Aber vielleicht komme ich eines Tages zurück, um euch alles zu erklären.«
Sie dachte sich in die Großklause zwei in der Hoffnung, endlich dort herauszukommen.
6.
»Die Seifenblase schrumpft zusehends. Wann wird sie endgültig in sich zusammenfallen oder einfach zerplatzen?«, fragte Pyon Arzachena bekümmert. Er meinte die energetische Hülle des SVE-Raumers, die in den letzten vierundzwanzig Stunden deutlich kleiner geworden war. Die GORSELL bestand praktisch nur mehr aus der
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