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Silberfischchen

Titel: Silberfischchen Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Inger-Maria Mahlke
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sich mit den Füßen ab, grub das Turnschuhprofil in den Schnee, drückte ihren Körper nach
     vorn. Er fühlte die jähe Bewegung neben sich, sie streifte seinen Ärmel, »was …?« Sie beachtete ihn nicht. Er griff nach ihr,
     griff ins Leere, zielstrebig ging sie dem Pärchen entgegen, zielstrebig blickte sie den beiden ins Gesicht. So zielstrebig,
     dass das Pärchen den Kurs änderte, auf Frau Potulski zusteuerte. Beide lächelten hilfsbereit, als sie ihr gegenüberstanden,
     er starrte auf Frau Potulskis beigen Jackenrücken, konnte nicht verstehen, was sie sagte, sie gestikulierte, breitete die
     Arme auseinander, streckte entschuldigend die Handflächen aus. Die beiden nickten einige Male, nickten gleichzeitig. Er konnte
     sehen, wie ihr Lächeln millimeterweise schmaler wurde, die Frau nahm den kleinen schwarzen Rucksack von ihrer Schulter und
     zog ein Portemonnaie hervor. Ihre Blicke wanderten an Jana Potulskis Gesicht vorbei, glitten über den Bürgersteig, bis sie
     an ihm hängenblieben. Ihn fixierten, ihn, erstarrt neben seiner Kamera. Vier Augen tasteten seinen Mantel ab, der dringend
     ausgebürstet werden müsste. Sie besahen sein Gesicht, seine |112| Tränensäcke, seine hängenden Wangen, seine Lippen, die bestimmt wieder zitterten, weil er sie zusammenpresste.
    Auch Frau Potulski drehte sich um, kurz, meinte er, sie würde mit dem Finger auf ihn deuten, doch sie lächelte nur still.
     Er wollte zurückstarren, aufrecht und stark, doch seine Augen wurden abgedrängt von ihren Augen, auf den Schnee hinabgezwungen,
     bis sie im fließenden Verkehr der Liebknechtstraße Halt fanden. Autos zogen vor seinen Pupillen vorbei, rot, silbern, graphitfarben.
     Sie hatte um Geld gebeten, Jana Potulski bettelte, stand nur wenige Schritte entfernt, drehte ihm den Rücken zu und bettelte.
     Er wagte nicht, sich von der Straße abzuwenden, er hätte ihr das Geld gegeben, nicht sogleich, aber er hätte es ihr gegeben.
     Wut breitete sich in ihm aus, ließ seinen Arm jäh durch die Luft fahren, gegen die Kamera stoßen, sie wackelte nur.
    »Danke«, sagte Frau Potulski, »vielen, vielen Dank, Sie sind gute Menschen«, sagte es laut, damit er es hörte. Die Antwort
     verstand er nicht, sie war zu leise. »Nein, Sie haben ein gutes Herz, das ist selten. Gott behüte Sie.«
    Jana Potulski kam auf ihn zu, hielt eine Münze hoch und lächelte. Breit und triumphierend. Ging an ihm vorbei, an ihm mit
     seiner Kamera, eilig auf den Bordstein zu.
    Das Pärchen ging langsam weiter, er wandte ihnen den Rücken zu, drehte am Objektiv, als würde er etwas einstellen. Sie starrten
     ihn an, er wusste, sie starrten ihn an, er beugte sich hinab, presste das Auge gegen den Sucher, am liebsten wäre er in die
     Kamera hineingekrochen, |113| sein Rücken schmerzte. Er hörte ihre Schritte, das Knirschen des Schnees, schweigend gingen sie hinter seinem gekrümmten Rücken
     vorbei. Er richtete sich erst wieder auf, als er sicher war, dass sie ihn passiert hatten.
    »Parasit«, brüllte er, »polnische Geschmeißfliege«, brüllte er, Jana Potulski überquerte langsam die Liebknechtstraße, sie
     zuckte nicht einmal. Seine Stimme schluckte der Verkehrslärm. Unbeirrt, als gäbe es ihn nicht, die Schultern fest, den Kopf
     erhoben, wartete sie am Mittelstreifen. Er hätte sie gern gestoßen, mit der Faust zwischen die Schulterblätter, zumindest
     mit der flachen Hand. Auf dass sie nach vorne fiel, sich nach ihm umsah. Plötzlich drehte sie sich um, das Kinn vorgereckt,
     die Augenbrauen zusammengezogen, zwei parallel verlaufende Falten teilten ihre Stirn.
    »Herrenmensch«, brüllte sie, den Oberkörper nach vorn gebeugt, die Arme nach hinten gestreckt, die Hände geballt, »Her-ren-mensch.«
    Das Wort hatte er lange nicht gehört, abrupt wandte sie sich ab. Er öffnete den Mund, er war erstaunt. Seinem Mund entwich
     eine Atemwolke, er hatte brüllen wollen, er wusste nur nicht mehr, was. Als könne er ihnen nichts anhaben, verschwanden die
     beigen Schultern in der Passantenmenge.
     
    Sie brauchte lange. Er sah die Straße hinab, suchte das Beige ihrer Jacke zwischen dunklen Wollmänteln und bunten Allwetterjacken.
     Brauchte länger als die Reisegruppe, die schließlich gänzlich in der Kirche verschwand. Länger als die beiden Frauen, die
     die Tafel studierten und weitergingen. Als der Radfahrer, der abstieg, |114| kurz den Sitz der Fahrradkette prüfte und weiterfuhr. Kurz meinte er, etwas Beiges ausmachen zu können, doch das

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